"Ein ziemlich alter Hut"

Über das vermeintlich Neue an der neuen Protestkultur

Vorbei scheinen die Zeiten der politischen Lethargie. Rund 30 Jahre nach den letzten Großdemonstrationen gegen das „Establishment“, gegen Imperialismus, Atomkraft oder Nachrüstung gehen die Leute wieder auf die Straße, wenn ihnen etwas nicht passt. Und dies gilt nicht nur für Deutschland. Roland Detsch sprach über die scheinbar neue Lust an der Revolte mit dem Protestforscher Wolfgang Kraushaar.

Sind die Auseinandersetzungen um das Bahnhofsprojekt „Stuttgart 21“ ausgerechnet in einem ökonomisch und sozial so saturierten Bundesland wie Baden-Württemberg tatsächlich Indizien einer neuen politischen Protestkultur? Was ist wirklich neu an diesem „Bürgerprotest“?

Nicht besonders viel. Es gibt ein paar Aspekte, die mir neu erscheinen. Es überwiegen jedoch bei Weitem bekannte, seit vielen Jahren geläufige Phänomene, die nun als vermeintlich neuartiger „Bürgerprotest“ im Zusammenhang mit „Stuttgart 21“ genannt werden. Nicht ohne Grund haben sich Ende der Sechziger-, Anfang der Siebzigerjahre in der Bundesrepublik derartig viele Bürgerinitiativen ausbreiten können, dass man damals von einer regelrechten „Bürgerinitiativbewegung“ sprach. Diese sind im Übrigen nie verschwunden, sondern existieren bis auf den heutigen Tag weiter fort. Der „Bürgerprotest“ ist also ein ziemlich alter Hut.

Das überraschendste Moment an „Stuttgart 21“ liegt vermutlich darin, dass die von vielen lange Zeit als „Spießer-Metropole“ etikettierte baden-württembergische Landeshauptstadt nun auf einmal zur Vorreiterin des Protests hat werden können. Wie ist das möglich gewesen? Darauf kenne ich noch immer keine zwingende, wirklich überzeugende Antwort. Eine unter ökonomischen und sozialen Vorzeichen derartig befriedete Stadt wie Stuttgart ist für das, was sich seit einem Jahr rund um den dortigen Hauptbahnhof, vor allem im Schlossgarten abspielt, eigentlich ein ganz unwahrscheinlicher Ort.

Wirklich neu erscheint mir an dieser Bewegung etwas zu sein, was eher mit dem genauen Gegenteil, nämlich mit „alt“ assoziiert werden könnte. Im Unterschied zu vielen anderen Protestbewegungen, die von jungen und dynamischen Akteuren geprägt worden sind, dominieren in Stuttgart die älteren Jahrgänge. Mehrere Untersuchungen sind unabhängig voneinander zu dem Resultat gelangt, dass dort die Altersgruppe der Vierzig- bis Sechzigjährigen zwei Drittel der Beteiligten stellt. Und eine Studie behauptet sogar, dass es sich dabei insofern um alte Bekannte handle, als die meisten von ihnen bereits an den früheren Protesten gegen Atomkraftwerke, den NATO-Nachrüstungsbeschluss und anderes mehr beteiligt gewesen seien.

Was halten Sie von Schlagwörtern wie vom „Wut-„ und „Mutbürger“ und von den Chancen zur Befriedung durch Reformen zu mehr direktdemokratischen Mitbestimmungsrechten?

Da man von Schlagwörtern ohnehin nicht viel halten kann, sollte man auch in diesen beiden Fällen keine Ausnahme machen. Das vom Nachrichtenmagazin „Spiegel“ kreierte Etikett „Wutbürger“ erscheint mir besonders problematisch, weil es die Stuttgarter Demonstranten als wenig vernunftbegabt, aggressiv und affektgesteuert stigmatisiert. Die Tatsache, dass eine Redakteurin des Magazins kurz darauf die Figur des „Mutbürgers“ dagegen setzen durfte, hat die Sache nicht mehr korrigieren können. Die „Gesellschaft für deutsche Sprache“ hat den „Wutbürger“ zum „Wort des Jahres 2010“ erkoren und ihm dazu verholfen, dass er zum Synonym für die Gegner von „Stuttgart 21“ hat werden können.

Im Übrigen bin ich nicht der Ansicht, dass die gravierendsten Probleme der Gegenwartsgesellschaft mit Hilfe einer Erweiterung der parlamentarischen Demokratie durch plebiszitäre Formen besser bewältigt werden könnten. Eine effektivere Kontrolle der Banken und des Finanzkapitals, eine Tendenzwende im Klimaschutz, höhere Steuergerechtigkeit und ein kostengünstigeres Gesundheitssystem etwa können nicht durch die Einführung von Volksentscheiden auf Bundesebene erreicht werden. Ich halte es für eine große Illusion zu glauben, man könne strukturelle Probleme, an denen sich Regierungen und Parteien bislang die Zähne ausgebissen haben, nun auf plebiszitärem Wege lösen. Das wird nicht einmal bei einem vergleichsweise überschaubaren Projekt wie „Stuttgart 21“ möglich sein.

Momentan brodelt es ja nicht nur in Deutschland. Von Griechenland bis Spanien gehören europaweit Massendemonstrationen inzwischen zur Tagesordnung, wenn es darum geht, den Unmut über Regierungspolitik und soziale Verhältnisse kundzutun. Kann man angesichts dessen bereits von einem internationalen Trend sprechen?

Einen derartigen Trend kann ich bislang nur in den Anrainerstaaten des Mittelmeers erkennen, deren soziale Probleme – wie man insbesondere an der exorbitant hohen Jugendarbeitslosigkeit sehen kann – eine ganz andere Qualität angenommen haben und mit den hiesigen kaum zu vergleichen sind.

Könnte vielleicht der „Arabische Frühling“, wie wir ihn in Teilen Nordafrikas, des Nahen und Mittleren Ostens erleben, als Ausdruck dieser angeblich neuen Protestkultur betrachtet werden, so wie es einst beim „Prager Frühling“ der Fall war, der damals sozusagen die Ostblock-Variante der 68-er Revolte war?

Die Rebellionen in den arabischen Staaten gehören in der Tat zu den beeindruckendsten Phänomenen der Gegenwart. Sie zeigen, zu welcher Kraft Protestbewegungen fähig sind, wenn sie einen Teil der Gesellschaft – den der jungen, gut qualifizierten, zumeist aber völlig perspektivlosen Erwachsenen – weitgehend durchdrungen haben. Diese Protestkultur hat aber mit der von „Stuttgart 21“ rein gar nichts zu tun. Die Wurzeln und Träger sind völlig verschieden.

Wolfgang Kraushaar, Jahrgang 1948, studierte Politikwissenschaft, Philosophie und Germanistik an der Universität Frankfurt am Main. Nach seiner Promotion bei Iring Fetscher 1982 schlug er eine wissenschaftliche Karriere ein und widmet sich dabei seit 1987 am Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS) insbesondere politischen Protestbewegungen in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. Er ist Autor zahlreicher Bücher zum Thema.

Links:

Wolfgang Kraushaar am Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS)

Essay von Wolfgang Kraushaar zum Thema in der Zeitschrift „Mittelweg 36“, 3/2011

Ergebnisse einer explorativen Studie zu den Protesten gegen "Stuttgart 21"

Kurzbericht zu Befragung von Demonstranten gegen "Stuttgart 21"

Dieses Gespräch oder eine Version erschien erstmalig auf der Website des Goethe-Instituts e.V. unter www.goethe.de...>>weiter
 

August 2011  (© cpw Medien- und Publikationsdienste)