Dem Volk ein bisschen mehr zutrauen

Ein Plädoyer für mehr direkte Demokratie in Deutschland

Die Gegner der direkten Demokratie haben derzeit wieder Oberwasser. Der Aufsehen erregende Volksentscheid der Schweizer für ein Minarettverbot ist ihnen Beweis für die Gefahren öffentlicher Abstimmungen. Befürworter können dagegen dem umstrittenen Votum im Sinne eines Denkanstoßes für die Politiker durchaus positive Seiten abgewinnen.
Über  Chancen und Risiken von Plebisziten sprach
Roland Detsch mit dem Heidelberger Politologen Manfred G. Schmidt

Herr Professor Schmidt, kann man direkte Demokratie tatsächlich als ein Kontroll- und Sicherheitsinstrument betrachten, das signalisiert, dass etwas nicht in Ordnung ist in der Gesellschaft?

Das Schweizer Votum hat erneut eine heftige Debatte über die Direktdemokratie ausgelöst. Das Für und Wider ist breit gefächert. Es reicht von der Warnung vor einem Volk, das sich von Demagogen nur zu gerne verführen lässt, bis zur Beschwörung des verantwortungsbewussten Staatsbürgers, der sachkundig Auskunft zu geben vermag, wenn er gefragt wird. Wir wissen aus der Beobachtung der Schweizer Direktdemokratie, dass eine Mehrheit des Souveräns dort trotz gelegentlicher Ausrutscher relativ umsichtig mit diesem scharfen Schwert umgeht, in der Sache vergleichsweise gut informiert und engagiert ist. Die Bürger fühlen sich dort durch ihre Beteiligung ernst genommen, ein integrativer Aspekt, den man nicht zu gering erachten sollte.

Warum haben wir dann nicht auch in Deutschland auf Bundesebene einen Volksentscheid, wo doch die Staatsgewalt laut Grundgesetz vom Volk ausgehen soll?

Weil in Deutschland nicht „Volkssouveränität“ sondern „Verfassungssouveränität“ herrscht und die „Instanz des letzten Wortes“ das Bundesverfassungsgericht ist, nicht das Volk wie in der Schweiz. Warum das so ist, hat viele Ursachen. Zum Beispiel die Meinung, dass die Direktdemokratie die Weimarer Republik destabilisiert habe oder dass direktdemokratische Arrangements im Nationalsozialismus – Austritt aus dem Völkerbund, Anschluss Österreichs – und in der DDR für populistische Zwecke missbraucht wurden. Davon wollte man sich distanzieren. Man hatte gehörig Angst, dass das Volk, der große Lümmel, sich wieder danebenbenehmen würde und wollte deshalb lieber eine Repräsentativdemokratie.

Da entbehrt es doch nicht einer gewissen Ironie, dass die meisten Landesverfassungen nach dem Krieg per Volksabstimmung in Kraft getreten sind.

Jaja! – Heute haben wir auf Bundesebene fast gar keine direktdemokratischen Arrangements, während wir auf Landesebene und in den Kommunen recht lebendige haben. Nicht ganz so lebendige wie in der Schweiz aber doch vorzeigbare. Die Süddeutsche Ratsverfassung, wie wir sie teilweise auf kommunaler Ebene haben, sieht Direktdemokratie vor, wenngleich am Ende nur in homöopathischen Dosierungen. Im Gegensatz zur Schweiz, wo Gesetzesreferenden und Volksinitiativen möglich sind, wo das Volk über Verfassungsrevisionen und auf Ebene der Kantone und Kommunen sogar über weitreichende Finanzreferenden abstimmt.

Kündet das nicht auch von einem reichlich elitären Bewusstsein unserer Politiker und von einer Geringschätzung der politischen Reife der Bürger?

Da haben Sie schon recht. Aber die Direktdemokratie ist – man muss es noch einmal sagen – tatsächlich ein unglaublich scharfes Schwert. Und die Befürchtung nach den Debakeln in der Vergangenheit, dass das Volk möglicherweise zu rabiat damit umgehe und zu unakzeptablen Entscheidungen komme, die womöglich an den Grundfesten des liberalen Verfassungsstaates rüttelt, ist verständlich.

Allerdings ist das Deutschland von heute nicht mehr das Deutschland der NS-Zeit, der Weimarer Republik oder des Kalten Krieges. Die Bundesrepublik ist mittlerweile eine gut etablierte, stabile Demokratie mit einer einigermaßen geschulten und informierten Wählerschaft. Da stellt sich dann doch die Frage, ob man diesem Volk nicht ein bisschen mehr zutrauen darf als bisher.

Im neuen Koalitionsvertrag stehen ja dazu wieder nur ein paar unverbindliche Floskeln.

Das wundert mich nicht. Schließlich sind CDU, CSU und FDP nie als besondere Anhänger einer Direktdemokratie im Bund in Erscheinung getreten. SPD und Grüne schon eher, wobei ich bezweifle, dass sie das heute noch tun würden. Seit die SPD ihren Status als Volkspartei zu verlieren droht oder Bürger in Hamburg gegen die schwarz-grüne Schulpolitik aufbegehren ist ihnen klar geworden, dass kleinere und mittlere Parteien bei Volksabstimmungen mit ihren Anliegen höchstwahrscheinlich nicht durchkommen. Außerdem ist Deutschland ein Parteienstaat. Und das Interesse der Parteien ist es nun einmal, die eigene Position nicht zu schwächen, etwa durch Direktdemokratie, sondern zu stärken.

Der EU-Reformvertrag enthält mit der Europäischen Bürgerinitiative die weltweit erste Regelung direkter Demokratie für Bürger aus unterschiedlichen Staaten. Was halten Sie davon?

Das scheint mir eher ein bescheidenes Beiwerk zu sein auf der verzweifelten Suche der EU nach einer stärkeren demokratischen Legitimierung ihres bürokratischen Gehäuses. Das wäre vielleicht ein Vehikel zur Mobilisierung der Europaskeptiker oder gar -gegner, die sich vermutlich am ehesten mobilisieren ließen, wenn es um die Abwehr der EU ginge. Bei einer Bevölkerung aus unterschiedlichen Sprachräumen über Grenzen hinweg halte ich allerdings selbst dies für eine Herkules-Aufgabe. Das ist selbst in eingefahrenen Referendumsdemokratien wie der Schweiz schwierig.

Was man dort übrigens in diesem Zusammenhang beobachten kann, ist ja hoch interessant und bewahrt vor einer Überschätzung des Instruments Direktdemokratie. Die Mobilisierung der Schweizer Bürger für Volksabstimmungen erfordert derart viel Geld für wirksame Kommunikationsstrategien, Öffentlichkeitsarbeit und so weiter, dass sich am Ende nur die organisations- und ressourcenstärksten Interessen Gehör verschaffen können, nicht die einfachen Leute.

Also wie viel direkte Demokratie würde unser Land vertragen?

Wenn man das Grundgesetz im Kern so behalten will, wie es ist, kommt eine Übertragung der Schweizer Instrumente der Direktdemokratie nicht in Frage. Allerdings ist eine Volksinitiative vorstellbar, bei der die Bürger mit einem bestimmten Quorum begehren können, dass sich der Bundestag dieser oder jener Sache annimmt. Man könnte ja wenigstens einmal die Probe aufs Exempel machen. Lasst uns mal fünf Jahre lang austesten, wie das funktioniert und dann sorgfältig Bilanz ziehen!

Manfred G. Schmidt, Jahrgang 1948, ist Professor am Institut für Politische Wissenschaft der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Demokratietheorie und der Vergleich demokratisch verfasster politischer Systeme.

Links:

Manfred G. Schmidt auf der Website der Universität Heidelberg

Initiative „Mehr Demokratie e. V.“

Aus Politik und Zeitgeschichte: „Direkte Demokratie“

Wilfried Marxer / Zoltán Tibor Pállinger: „Direkte Demokratie in der Schweiz und in Liechtenstein – Systemkontexte und Effekte“

Herbert Dachs: Verschiedene Modelle der Demokratie

Dieses Gespräch oder eine Version erschien erstmalig auf der Website des Goethe-Instituts e.V. unter www.goethe.de...>>weiter
 

Februar 2010  (© cpw Medien- und Publikationsdienste)