Antisemitismus

 

Wenn ein Kind vermisst wurde oder der Brunnen vergiftet war, wenn eine Seuche umging oder die Ernte ausfiel – wem gab man im Mittelalter die Schuld? Den Juden. Wenn es in der Weltwirtschaft kriselte und die Arbeitslosigkeit stieg, wenn sich Kapitalisten bereicherten oder Kommunisten revoltierten – wem schob man es in der Neuzeit in die Schuhe? Den Juden. Seit sie sich nach der Zerstörung von Jerusalem durch die Römer im Jahr 70 n. Chr. in alle Winde zerstreuten, wurde den Juden fast überall, wo sie sich niederließen, mit Verachtung, Ausgrenzung und Verfolgung begegnet. Die auf Aberglaube und Vorurteile gründende Feindseligkeit gegen die Juden nennt man Antisemitismus.

IRRGLAUBE VON EINER JÜDISCHEN „RASSE”

Das Wort Antisemitismus wurde 1879 von einem deutschen Journalisten geprägt, der damit seine gegen die Juden gerichteten Hetzschriften „wissenschaftlich” zu untermauern versuchte. Die Wortbedeutung ist eigentlich ungenau, denn Semiten sind Angehörige einer Sprachgruppe, der neben den Juden auch Araber und viele Afrikaner, wie z. B. Äthiopier, angehören. Der Antisemitismus richtet sich aber ausschließlich gegen Juden. Er behauptet, dass es so etwas wie eine jüdische „Menschenrasse” gibt. Sein Hass richtet sich gegen alle Angehörigen dieser vermeintlichen „Rasse”, unabhängig davon, ob sie den jüdischen Glauben praktizieren oder nicht.

Leben im Ghetto
Ab dem 16. Jahrhundert waren die Juden in vielen Städten gezwungen, in Ghettos (auch Getto geschrieben) zu leben. Das waren einzelne abgesonderte Gassen oder ganze Viertel, in denen nur oder fast nur Juden lebten. Sie waren von Mauern umgeben, und nachts oder an christlichen Feiertagen wurden die Tore abgeschlossen, so dass niemand mehr heraus- oder hineinkam.

CHRISTEN GEGEN JUDEN

Die katholische Kirche ist bereits in der Antike gegen Juden vorgegangen. Sie trachtete ungefähr ab dem Jahr 300 vergeblich danach, die Juden zu bekehren, da sie deren religiöse Sonderstellung nicht hinnehmen wollte. Die Päpste hetzten gegen die Juden und brandmarkten sie als Mörder von Jesus Christus – ein ebenso abwegiger wie aberwitziger Vorwurf, da Jesus ja selbst jüdischer Herkunft war. Der Hass, den die Päpste säten, fiel beim Volk jedoch auf fruchtbaren Boden. In der Folge wurden die Juden ausgegrenzt und als Sündenböcke missbraucht.

Die Juden, die bevorzugt in den Städten lebten, waren seit jeher tüchtige Fernhändler und daher oft recht wohlhabend. So gesellte sich bei ihren christlichen Mitbürgern zur religiösen Ablehnung auch noch der Neid. Wo immer es ging, machte man den Juden das Leben schwer. Christliche Kaufleute drängten sie aus dem Geschäftsleben, die Handwerkszünfte verweigerten ihnen die Aufnahme, Ämter durften sie nicht bekleiden und Grund und Boden nicht erwerben. So blieb den Juden bald nicht viel mehr als der Trödelhandel und Tätigkeiten, die bei Christen als unehrenhaft galten oder ihnen verboten waren, wie z. B. der Geldverleih gegen Zinsen. Doch auch die Christen waren vor Geldnot nicht gefeit, und so mancher geriet in die Schuld jüdischer Gläubiger. Der Wohlstand, zu dem es einige Juden durch Zinsgeschäfte brachten, steigerte nur Hass und Missgunst in der Bevölkerung. Wer einen „jüdischen Wucherer” betrog oder beraubte, kam nicht selten straffrei davon.

Verfolgung im Mittelalter
Die Entrechtung und Verfolgung der Juden im Nationalsozialismus hatte historische Vorbilder. Ähnlich wie in der so genannten „Reichskristallnacht” 1938 mündeten schon im Mittelalter Hass und Aberglaube in gewalttätigen Pogromen (Ausschreitungen) gegen die Juden. Auch der gelbe Davidstern, den die Juden im Dritten Reich gut sichtbar zu tragen hatten, geht auf das Mittelalter zurück: Die Juden mussten vielerorts gelbe Kleidung und den hohen spitzen Judenhut tragen, damit jeder sie sogleich als Juden erkennen konnte. Und im Kirchenstaat mussten sie sich auf Anordnung der Päpste ein gelbes Stück Stoff aufnähen, bevor sie das Ghetto verließen. Wie im Mittelalter, so durften die Juden auch in der Zeit des Nationalsozialismus nicht mehr alle Berufe ausüben, sie durften nicht mehr studieren oder ihre Kinder auf nichtjüdische Schulen schicken.

JUDENEMANZIPATION

Im Zeitalter der Aufklärung und des Liberalismus, denen die Französische Revolution von 1789 zum Durchbruch verholfen hatte, bekannten sich immer mehr Staaten zu den Menschen- und Bürgerrechten und gewährten diese auch Minderheiten wie den Juden. Die Juden waren in vielen Ländern nun also rechtlich gleichgestellt, aber die volle gesellschaftliche Anerkennung brachte dies noch lange nicht mit sich. Trotzdem schafften viele Juden den Aufstieg. Doch ihre überdurchschnittlichen Erfolge als Unternehmer, Wissenschaftler oder Künstler sorgten für neue Anfeindungen. Ende des 19. Jahrhunderts griff in den Völkern Europas ein übersteigerter Nationalismus um sich, der sich in Fremdenfeindlichkeit äußerte und auch gegen Juden richtete. Von dieser Stimmung wurden auch Adolf Hitler und seine Gesinnungsfreunde geprägt.

Juden im Kaiserreich
Erst in der Zeit des Absolutismus hatten einzelne Juden als Geldgeber der Fürsten an Ansehen gewonnen. Die so genannte Judenemanzipation, durch die die Juden in vielen Bereichen den Nichtjuden gleichgestellt wurden, führte aber nicht zu einer vollständigen Gleichstellung. So war den Juden beispielsweise noch lange der Eintritt in den Staatsdienst und in die Armee verwehrt. Das Großbürgertum schottete sich vor ihnen ab. Erst unter Reichskanzler Otto von Bismarck wurden im späten 19. Jahrhundert die staatsbürgerlichen Beschränkungen der Juden aufgehoben. Im Deutschen Kaiserreich entwickelte sich eine reichhaltige jüdische Kultur – gleichzeitig bildeten sich dort die Wurzeln des Antisemitismus.

ANTISEMITISMUS IM NATIONALSOZIALISMUS

Die Anhänger des Nationalsozialismus griffen die Fremdenfeindlichkeit und vor allem den Antisemitismus auf und machten schließlich das Judentum für alles Übel auf der Welt verantwortlich. Mit Begeisterung nahm Hitler abwegige Theorien aus dem 19. Jahrhundert auf, die die Menschen jüdischen Glaubens zu Angehörigen einer minderwertigen „semitischen Menschenrasse” erklärten. In seinem Wahn unterstellte er den in vielen Ländern verstreut lebenden Juden eine Verschwörung, um „höherwertige Rassen” zu unterwandern und zu schwächen und am Ende selbst die Weltherrschaft zu übernehmen. Sobald Hitler in Deutschland die Macht übernommen hatte, wurden die Juden in jeder erdenklichen Weise schikaniert, erniedrigt, entrechtet und verfolgt. Der Antisemitismus der Nationalsozialisten mündete schließlich in die organisierte Vernichtung der Juden, den Holocaust, durch den die Nationalsozialisten die Juden ein für allemal „ausrotten” wollten. Schätzungsweise sechs Millionen Juden fielen diesem Wahn zum Opfer.

ZIONISMUS

Angesichts des Antisemitismus hatte der jüdische Schriftsteller Theodor Herzl (1860-1904) bereits 1897 die Bewegung des Zionismus ins Leben gerufen. Der Zionismus strebte eine Rückkehr der Juden aus aller Welt nach Palästina an, das Land, in dem die Juden ursprünglich gelebt hatten und das ihnen Gott nach ihrem Glauben als „gelobtes Land” versprochen hatte. Erst nach den Schrecken des Holocausts wurden die Voraussetzungen für diesen Wunsch Wirklichkeit: 1948 wurde der Staat Israel gegründet.

Auch heute gibt es immer noch Antisemitismus und abwegige Theorien, die den Juden eine Verschwörung unterstellen. In Deutschland hat der Antisemitismus seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts wieder zugenommen. Juden erhalten Droh- und Schmähbriefe, jüdische Friedhöfe werden geschändet, und es werden Anschläge auf Synagogen (die jüdischen Gebetshäuser) und andere jüdische Einrichtungen verübt. Dennoch wachsen die jüdischen Gemeinden in Deutschland stetig an, vor allem, weil zahlreiche Juden aus Osteuropa einwandern. Gab es 1950, also fünf Jahre nach dem Ende des Holocaust, gerade einmal ungefähr 15 000 Juden in Deutschland, so sind es heute schon fast 100 000.

Für Kinder und Jugendliche
verfasst von:
Roland Detsch

(© cpw, 2007)