Arbeiterbewegung und Gewerkschaften
„Mann der Arbeit aufgewacht, und erkenne deine Macht! Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will.” Diese Zeilen aus dem Bundeslied der jungen Arbeiterbewegung, das der deutsche Dichter Georg Herwegh 1863 schrieb, ließen die Unternehmer erzittern. Denn selbst wenn sie sonst stets am längeren Hebel saßen, einem organisierten Arbeitskampf hatten die Unternehmer nur wenig entgegenzusetzen. Möglich machten dies die Gewerkschaften, die im Industriezeitalter zur stärksten Waffe der Arbeiter im Kampf gegen Ausbeutung und für bessere Arbeitsbedingungen wurde. Inzwischen sind rauchende Fabrikschlote eher selten geworden. Das Wirtschaftsleben wird von kleinen und mittelgroßen Firmen oder riesigen, international tätigen Konzernen geprägt. Heute kämpfen die Gewerkschaften weniger gegen Armut als um Wohlstandsprobleme. Selbst wenn sie es nicht wahrhaben wollen: Die Glanzzeiten der Gewerkschaften sind längst vorbei. FRÜCHTE DES KAMPFES Ihr Dasein verdanken die Gewerkschaften den unerträglichen Zuständen im Frühkapitalismus, als die Arbeiter in schamloser Weise von den Unternehmern ausgebeutet wurden. Von Kind an mussten sie für einen Hungerlohn 70 Stunden in der Woche pausenlos und ohne Wochenende schuften; älter als 30 Jahre wurden dabei nur die wenigsten. Wenn jemand – wie es häufig vorkam – durch Krankheit oder einen Arbeitsunfall zu Schaden kam, hatte er keinerlei Anrecht auf Unterstützung. Heute arbeiten Angestellte und Arbeiter selten länger als 40 Stunden in der Woche. Sie bekommen in der Regel ein Gehalt, von dem sie sich ausreichend Nahrungsmittel, ordentliche Kleidung und eine Wohnung leisten können. Und sogar so manche Urlaubsreise in ferne Länder können sie unternehmen. Der Sozialstaat trägt dafür Sorge, dass jeder ein menschenwürdiges Dasein fristen kann. Die hohe Lebensqualität, die wir heute genießen, ist zu einem großen Teil eine Errungenschaft der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung.
ZÄHMUNG DES RAUBTIER-KAPITALISMUS Der frühe, menschenverachtende Kapitalismus, in dem die Arbeiter auf Gedeih und Verderb dem Unternehmer ausgeliefert waren, wird auch als „Raubtier-Kapitalismus” bezeichnet. Die einzige Möglichkeit, dieses Raubtier zu zähmen, bestand darin, dass sich die Arbeiter selbst organisierten und sich gemeinsam gegen die Unternehmer stellten. Ihre wirksamste Waffe war die gemeinsame Niederlegung der Arbeit, der Streik. Denn wenn in einer Fabrik nicht gearbeitet wird, wird auch nichts produziert und nichts verkauft – und das hat herbe Gewinneinbußen für den Unternehmer zur Folge. Der Unternehmer kann zwar einzelne streikende Arbeiter entlassen, aber nicht die gesamte Belegschaft. Denn dann stünde seine Fabrik erst einmal leer, und er verlöre noch mehr Geld. Dass eine organisierte Arbeiterschaft zur Durchsetzung höherer Löhne, besserer Arbeitsbedingungen und kürzerer Arbeitszeiten nützlich sein kann, erkannten die Arbeiter zuerst in England. In England, dem damals führenden Industriestaat, gründeten Arbeiter 1824 die ersten Gewerkschaften. Das waren – wie sie es heute noch sind – Vereinigungen von Arbeitnehmern, die die Interessen ihrer Mitglieder gegenüber den Arbeitgebern durchsetzen sollten. DIE ANFÄNGE In England war es auch, wo der Streik zum ersten Mal erfolgreich als Mittel des Arbeitskampfes erprobt wurde. In Deutschland, das der industriellen Entwicklung anfangs hinterherhinkte, formierte sich eine politische Arbeiterbewegung erst 1848. Der Buchdrucker Stephan Born gründete in diesem Jahr die Allgemeine Deutsche Arbeiterverbrüderung. Nach dem Scheitern der Revolution von 1848 wurde die Organisation, die es innerhalb kurzer Zeit immerhin auf 18 000 Mitglieder gebracht hatte, aufgelöst.
VOM ARBEITERBILDUNGSVEREIN ZUR ARBEITERPARTEI Wegen eines Versammlungsverbotes konnte sich die deutsche Arbeiterbewegung erst ab 1859 entfalten, und zwar getarnt als „Arbeiterbildungsvereine”. 1863 gründete Ferdinand Lassalle den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV), der sich die Parolen „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit” und „Einigkeit macht stark” auf die Fahne schrieb. Lassalle forderte das allgemeine und gleiche Wahlrecht für Arbeiter, weil er sich davon mehr Einfluss auf das Parlament und die Arbeitsgesetzgebung versprach. Andererseits gab es aber auch Arbeiter, die bezweifelten, dass eine Verbesserung ihrer Lage mit gesetzlichen Mitteln und auf friedlichem Wege möglich sei. Viele von ihnen waren Anhänger von Karl Marx, der zum Sturz der alten Ordnung durch eine Revolution aufrief und den Sozialismus und Kommunismus pries. Sie schlossen sich 1867 im Verband der Deutschen Arbeitervereine zusammen, aus dem 1869 unter der Führung von August Bebel und Wilhelm Liebknecht die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) hervorging. 1875 vereinigten sich SDAP und ADAV zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP). Seit 1890 nennt sie sich Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD).
STAATSFEINDE Der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck betrachtete die Sozialisten als Staatsfeinde. Zwei (gescheiterte) Mordanschläge auf den Kaiser 1878 kamen ihm gelegen, um ein „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie” (kurz: Sozialistengesetz) durchzusetzen. Sozialdemokratische, sozialistische und kommunistische Zeitungen und Druckschriften, Vereine und Organisationen wurden verboten, 900 missliebige Arbeiterführer außer Landes gewiesen und 1 500 weitere verhaftet. Doch die Hetze schadete den Sozialdemokraten nicht – im Gegenteil. Aus den Reichstagswahlen von 1890 ging die SPD deutlich gestärkt hervor. Das Sozialistengesetz wurde aufgehoben.
DEUTSCHE GEWERKSCHAFTEN Trotz erheblicher Widerstände seitens der Obrigkeit war es seit 1868 auch zur Gründung großer Gewerkschaften gekommen; sie entwickelten sich zu den wichtigsten Interessenverbänden für die Arbeiter. Neben den freien Gewerkschaften, die sich eng an die Sozialdemokratische Partei anlehnten, entstanden ab 1894 auch christliche Gewerkschaften, die sich an den Kirchen orientierten. Ihr gemeinsamer Kampf galt höheren Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen. Sie kümmerten sich außerdem um die Bildung der Arbeiter und gewährten ihnen Rechtsschutz. TARIFAUTONOMIE Doch offiziell anerkannt wurden die Gewerkschaften als Vertretung der Arbeiter erst im Jahr 1916. Die machtvolle Stellung, die sie heute in der Gesellschaft einnehmen, verdanken sie der Schaffung des so genannten Tarifrechtes im Jahr 1918. Das Tarifrecht bestimmt, dass die Arbeitsbedingungen und Arbeitslöhne zwischen den Arbeitgebern und den Gewerkschaften direkt ausgehandelt werden, ohne dass sich der Staat einmischt. Die entsprechenden Vereinbarungen werden schriftlich in so genannten Tarifverträgen niedergelegt und sind für alle Betriebe verbindlich. Dieses Selbstbestimmungsrecht nennt man Tarifautonomie. Es ist in der Bundesrepublik Deutschland in der Verfassung, dem Grundgesetz, festgeschrieben. GEWERKSCHAFTEN HEUTE Trotz Mitgliederschwundes sind in den deutschen Gewerkschaften noch immer rund acht Millionen Mitglieder organisiert. Die Gewerkschaften ver.di und IG Metall sind die beiden größten freien Einzelgewerkschaften der Welt. Auch wenn ihr einst sehr großer Einfluss schwindet, so spielen die Gewerkschaften in der deutschen Gesellschaft doch immer noch eine wichtige Rolle. Einige der Errungenschaften wie Kündigungsschutz und 38-Stunden-Woche, die Arbeiterbewegung und Gewerkschaften mit viel Einsatz erkämpft haben, befinden sich jedoch bereits wieder in Auflösung.
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