Aristoteles

 

Aristoteles war der erste große Universalgelehrte der Geistesgeschichte. Anders als seine Vorgänger Sokrates und Platon beschränkte sich sein Interesse nicht nur auf Fragen der Tugendlehre, Seinslehre und der Staatslehre. Das Werk des mehr praktisch veranlagten Aristoteles beinhaltet darüber hinaus sehr bemerkenswerte Schriften zur Mathematik (Zahlenkunde), Physik (Naturkunde), Logik (Lehre vom richtigen Denken), Psychologie (Seelenkunde), Kosmologie (Sternenkunde), Meteorologie (Wetterkunde), Biologie (Naturkunde), Zoologie (Tierkunde), Botanik (Pflanzenkunde), ja sogar zur Rhetorik (Redekunst) und Poetik (Dichtkunst). Von seinen etwa 170 Werken ist nur ein Viertel erhalten. Trotzdem ist er einer der einflussreichsten Denker in der Geschichte der Philosophie.

LESER UND SAMMLER

Aristoteles kam 384 v. Chr. in der thrakischen Kleinstadt Stagira auf der Halbinsel Chalkidike zur Welt. Da sein Vater Nikomachos, ein Naturforscher und Leibarzt des makedonischen Königs Amyntas II., früh starb, wurde er von einem Vormund aufgezogen. Angeblich dem Rat eines Orakels folgend, ging Aristoteles im Alter von 17 Jahren zum Studium der Philosophie nach Athen. Er trat in Platons Akademie ein, die erste Hochschule des Abendlandes und das Zentrum des griechischen Geisteslebens. Dort verbrachte er erst als Schüler und danach als Lehrer 20 Jahre seines Lebens. Der „Stagirit”, wie er nach seiner Herkunft genannt wurde, war ein unermüdlicher Leser. Er sammelte Schriften aller Art, fertigte Auszüge an, ordnete sie und schuf damit die Grundlage für ein Werk, das nahezu das gesamte Wissen des Altertums umfasste.

GLÜCK IN ASSOS

Als nach Platons Tod die Akademieleitung nicht an ihn, sondern an Platons Neffen Speusippos fiel, folgte Aristoteles 347 v. Chr. einer Einladung seines Freundes Hermias, der in der griechischen Kolonie Assos in Kleinasien (heute Türkei) herrschte. Zusammen mit anderen „Akademikern” eröffnete er dort eine Zweigstelle der Platonischen Schule. Er heiratete Pythia, die Nichte und Adoptivtochter des Hermias, die ihm eine Tochter schenkte, der er den Namen ihrer Mutter gab. Nach Pythias Tod 345 v. Chr. hatte Aristoteles mit seiner Haushälterin Herpyllis noch einen Sohn, den er Nikomachos nannte. Ihm widmete er sein Werk zur Tugendlehre mit dem Titel Nikomachische Ethik.

Der goldene Mittelweg
Die aristotelische Tugendlehre fordert das Streben nach „Mitte und Maß”. So sollte der Mensch weder feige noch tollkühn sein, sondern tapfer, weder geizig noch verschwenderisch, sondern großzügig. Diese grundlegende Auffassung kommt auch in seiner Lehre von der gemischten Verfassung zum Ausdruck. Aristoteles bezeichnet den Menschen als zoon politikon (politisches Wesen), das ohne Gesellschaft nicht leben könnte. Die höchste Form menschlicher Gemeinschaft sieht er im Staat, über dessen Ordnung er sich eingehend Gedanken gemacht hat.

ERZIEHER ALEXANDERS

Als die Perser Assos überfielen und Hermias töteten, floh Aristoteles zusammen mit seinem Schüler und Freund Theophrast nach Mytilene auf der Insel Lesbos, wo sich die beiden ihren Naturstudien widmeten. Auf Wunsch des makedonischen Königs Philipp II. übernahm er 342 v. Chr. die Erziehung des dreizehnjährigen Thronfolgers, der später als Alexander der Große in die Geschichte einging. Aristoteles blieb bei Hof in Pella, bis sein Zögling die Nachfolge seines ermordeten Vaters Philipp antrat. Dieser hatte inzwischen ganz Griechenland unterworfen.

Ein großer Feldherr
Welches Verhältnis Aristoteles zu seinem Schüler Alexander dem Großen hatte, ist unbekannt, weil er ihn in seinen Schriften nie erwähnt. Allerdings wurde gemutmaßt, dass die Genialität des jungen Feldherrn und sein Plan eines Großreiches auf die Schulung durch Aristoteles zurückzuführen war.

MEISTER DER PERIPATETIKER

335 v. Chr. kehrte Aristoteles nach Athen zurück und eröffnete im heiligen Hain des Apollon Lykeios eine Schule. Das so genannte Lykeion war eine Denkerschule und verfügte über ein Naturkundemuseum mit nahezu allen in der Antike bekannten Pflanzen und Tieren sowie eine vorbildliche Bibliothek. Wegen ihrer Angewohnheit, bei gelehrten Gesprächen in einem überdachten Wandelgang (Peripatos) umherzuspazieren, nannte man die Philosophen des Lykeions auch Peripatetiker.

Vom Lykeion zum Lyzeum
Noch heute werden Hochschulen nach Platons Bildungsstätte als Akademie bezeichnet. Je nach Region war Lyzeum früher die Bezeichnung für theologische und philosophische Bildungsanstalten (Bayern), Oberschulen (Baden-Württemberg) oder höhere Mädchenschulen (Preußen). Das französische Wort für ein staatliches Gymnasium ist lycée.

FLUCHT AUS ATHEN UND TOD

Als die Athener nach dem Tod Alexanders im Jahre 323 v. Chr. die Fremdherrschaft abschüttelten, wurden alle Makedonier verfolgt – auch Aristoteles, der noch dazu Erzieher des großen Eroberers gewesen war. Hochverrat war ihm nicht nachzuweisen, also bezichtigte man ihn der Gottlosigkeit. Sein großer Vorgänger Sokrates hatte dieselbe Anklage mit seinem Leben bezahlen müssen. Deshalb übergab Aristoteles die Schulleitung an Theophrast und entzog sich seiner Verhaftung durch Flucht. Er ließ sich auf dem Landgut seiner Mutter in Chalkis auf der Insel Euböa nieder. Hier starb er 322 v. Chr. im Alter von 62 Jahren.

VORDENKER DER MODERNE

Im Gegensatz zur Philosophie seines 44 Jahre älteren Lehrers Platon erscheint dem modernen Menschen die Weltsicht des Aristoteles sehr einleuchtend, ja geradezu selbstverständlich. Denn das Alltagsdenken, mit dem wir aufwachsen, ist aristotelisch geprägt. Für Platon haben die Vorstellungen, die der Mensch mit Hilfe seiner Vernunft hervorbringt, einen höheren Grad von Wirklichkeit als die sinnlich erfahrbare Welt. Er glaubte an angeborene Ideen, die unser Bild der Welt bestimmen. Aristoteles hielt dies für Unsinn im wahrsten Sinne des Wortes. Er ging davon aus, dass die Vernunft – das wichtigste Kennzeichen des Menschen – bei der Geburt völlig leer ist und sich erst durch Sinneseindrücke (Wahrnehmungen und Empfindungen) entfalten muss.

DIE ORDNUNG DER DINGE

Nach Aristoteles macht sich der Mensch durch Beobachten und Vergleichen eine Vorstellung von den Dingen der Welt, z. B. von Steinen, Pflanzen und Tieren. Zu den Steinen gehören Edelsteine, Kieselsteine usw., zu den Pflanzen Blumen und Bäume usw., zu den Tieren Hunde und Katzen usw. Unsere angeborene Fähigkeit, die Dinge der Welt anhand ihrer Merkmale in Gruppen einzuteilen, bietet uns erstaunliche Möglichkeiten. Der Mensch kann Dinge, die er einmal sinnlich erfahren hat, allein durch Nennung ihres Namens vor seinem geistigen Auge erblicken.

Alles hat seine Ordnung
Aristoteles war ein großer Systematiker. Das heißt, er versuchte, alle Gegenstände und Lebewesen in Ordnungen einzuteilen. In der Naturkunde erfolgte die Zuordnung von Lebewesen z. B. nach folgendem Muster: Tier -> Wirbeltier -> Säugetier -> Hund -> Schäferhund.

VOM GUTEN UND GLÜCKLICHEN LEBEN

Breiten Raum nehmen im Werk des Aristoteles auch Betrachtungen zur menschlichen Lebensführung ein. Immer wieder machte er sich Gedanken, was der Mensch zum Glück und zum guten Leben benötigt. Aristoteles unterscheidet drei Formen des Glücks, die unbedingt zusammengehören, damit der Mensch ein erfülltes Leben führen kann: 1. Leben mit Lust und Vergnügungen; 2. Leben als freier und verantwortlicher Bürger; 3. Leben als Forscher und Philosoph. Er lehnt jede Form der Einseitigkeit als Ausdruck einer verfehlten Lebensführung ab. Der Mensch wird nur glücklich, wenn er alle seine Fähigkeiten und Möglichkeiten entfalten kann.

BEGRÜNDER DER LOGIK

Aristoteles ist der Begründer der Logik als eigenständiger Wissenschaft des folgerichtigen Denkens. Sie ermöglicht es etwa, aus zwei Behauptungen oder Urteilen (Prämissen) eine Schlussfolgerung zu ziehen nach dem Schema: Alle Lebewesen sind sterblich. – Aristoteles ist ein lebendes Wesen. – Schlussfolgerung: Aristoteles ist sterblich. Oder: Alle Lebewesen sind sterblich. – Der Stein ist unsterblich. – Schlussfolgerung: Der Stein ist kein Lebewesen.

Für Kinder und Jugendliche
verfasst von:
Roland Detsch

(© cpw, 2007)