Der Mensch wird sesshaft

 

Unweit vom See drängen sich dicht an dicht zwanzig bis dreißig Häuser mit Mauern aus Flechtwerk und Dächern aus Holzschindeln. Dazwischen winden sich enge Gassen, die auf einen großen Platz in der Mitte münden. Umgeben ist die ganze Siedlung mit einem Holzzaun. Drumherum gibt es große Weiden, auf denen das Vieh friedlich grast: langhaarige Kühe und Ziegen mit prallen Eutern, wollige Schafe, struppige Pferde und borstige Schweine, die sich in einer Suhle tummeln. Gehütet werden sie von halbwüchsigen Buben, die mit ihren zahmen Wolfshunden spielen.

Zur Mittagszeit kommen die Männer von den Feldern, die in Sichtweite des Dorfes liegen. Über die Schulter tragen sie ihre Werkzeuge: Keile und Hacken aus geglättetem Stein mit hölzernen Griffen. Ihre Kleidung ist schlicht und zweckmäßig. Schenkellange Hemden aus Leinen und Umhänge aus gewebter Wolle, als Gürtel dient ein einfacher Strick oder ein Lederriemen. Jeder der Männer trägt ein geschärftes Steinbeil an der Seite zur Verteidigung gegen Raubtiere oder durchziehende Jägersippen. Im Dorf trennt sich die Gruppe, und jeder steuert auf sein Haus zu.

MEHLBREI UND SUPPENFLEISCH

Auf dem Speiseplan stehen Gemüsesuppe, Mehlbrei mit getrockneten Waldfrüchten und Nüssen, gekochtes Fleisch, Gerstengrütze, dazu warme Brotfladen und Milch. Für die Zubereitung der Speisen sind die Frauen zuständig. Gekocht wird in Töpfen aus gebranntem Ton auf einem Lehmherd oder im offenen Feuer, gegessen aus einfachen Tonnäpfen auf dem Fußboden. Die mit Fellen und geflochtenen Schilfmatten ausgelegten Hütten bestehen aus einem großen Raum, in dem Jung und Alt zusammen leben, kochen, essen und schlafen; und auch ein paar der Haustiere sind mit in der Hütte. In einem abgedeckten kühlen Erdloch befindet sich die Kammer mit den Lebensmittelvorräten.

So ungefähr muss man sich die ersten Bauerndörfer bei uns in Mitteleuropa vorstellen – sofern man den Archäologen Glauben schenken darf. Selbst in Augenschein nehmen kann sie nämlich niemand mehr, sie sind längst verschwunden. Denn die beschriebene Idylle spielte sich in der Jungsteinzeit ab, in der Fachsprache auch als Neolithikum bezeichnet. Sie begann nach Ende der Eiszeit in Europa vor rund 10 000 Jahren. In Europa wird die Jungsteinzeit auf die Zeit zwischen ungefähr 5600 bis 2200 v. Chr. begrenzt. Und damit liegt sie noch weit zurück in der so genannten „Vorgeschichte”, also in der Zeit, aus der es noch keinerlei schriftliche Überlieferungen gibt.

Zwei wichtige Erfindungen
Die Keramik gehört zu den bedeutendsten Erfindungen der Jungsteinzeit. In Krügen und Gefäßen aus gebranntem Ton lassen sich Lebensmittel zubereiten, kochen, vergären und aufbewahren.
Eine der wichtigsten technischen Erfindungen der Menschheitsgeschichte ist die Nähnadel. Bevor es dieses geradezu geniale Werkzeug gab, konnten sich die Menschen nur notdürftig mit Fellen behängen. Die ersten Nähnadeln der Jungsteinzeit waren 2 bis 20 Zentimeter lange spitze Tierknochen. An ihrem stumpfen Ende wurden mit einem kleinen Steinbohrer Öhre gebohrt.

SCHERBEN UND ERDVERFÄRBUNGEN

Um sich ein Bild von der Lebensweise der damaligen Menschen zu machen, müssen die Forscher Rückschlüsse aus Einzelfunden ziehen: aus Bruchstücken von Werkzeugen, Knochen, Blütenpollen, Saatgut, Tonscherben. Wenn sie Glück haben, finden sie auch Überreste von Holz und Stoffen, die sich aber nur unter günstigen Bedingungen erhalten haben, also z. B. unter Luftabschluss im Ufersumpf von Gewässern. Die wohl wichtigsten Anhaltspunkte liefern Luftbilder, auf denen sich noch heute erstaunlich deutlich die Umrisse längst untergegangener Siedlungen abzeichnen. Das kommt daher, dass die tief in die Erde gerammten Holzpfosten der einstigen Häuser zu fruchtbarem Humus vermodert sind, der das Pflanzenwachstum an diesen Stellen anregt.

Bei Ausgrabungen findet sich meist nicht viel mehr als Verfärbungen im Erdreich. Die lebhaftesten Zeugnisse jungsteinzeitlicher Kulturen legen ausgerechnet die Friedhöfe aus dieser Zeit ab. Im Falle der gigantischen Steingräber, der so genannten Dolmen oder Megalithbauten, sind diese Zeugnisse derart überwältigend, dass man sie jahrtausendelang für das Werk von Riesen hielt. Daher werden sie im Volksmund auch „Hünengräber” genannt.

Dörfer – aufgegeben und wieder genutzt
Da Düngung noch unbekannt war, wurde der Boden durch den Ackerbau verhältnismäßig rasch ausgelaugt. Dies zwang die Bauern in manchen Gebieten, ihre Höfe nach einiger Zeit aufzugeben. Manchmal kamen sie aber nach Jahren der Brache wieder zurück. Bei Ausgrabungen eines vorgeschichtlichen Dorfes bei Köln-Lindenthal konnte man nachweisen, dass es siebenmal genutzt worden war.

DIE NEOLITHISCHE REVOLUTION

Fest steht, dass in der Jungsteinzeit die entscheidenden Weichen für die Lebensweise des modernen Menschen gestellt wurden. Aus dem umherziehenden Jäger und Sammler wurde ein sesshafter Bauer und Viehzüchter. Diese grundlegende Änderung der Lebensweise wird als „Neolithische Revolution” bezeichnet. Zu den weiteren Merkmalen der Neolithischen Revolution gehören der Beginn der Keramikherstellung, der Kupferverarbeitung sowie der Tauschhandel.

Kulturen der Jungsteinzeit
Die Forscher können die Völker der Jungsteinzeit durch die Art, wie sie ihre Tongefäße herstellten und gestalteten, klar unterscheiden. So spricht man etwa von der Bandkeramikkultur, wenn Scherben von Tongefäßen mit Bandmustern gefunden werden, oder von Schnurkeramikkultur, wenn sie mit Abdrücken von Schnüren geschmückt sind. Als die schönsten der gesamten Steinzeit gelten die Gefäße der Glockenbecherkultur, die wie auf dem Kopf stehende Glocken geformt sind. Menschen dieser Kultur, die um 2000 v. Chr. von Spanien über den Rhein nach Osten vorstießen, brachten auch erste Fertigkeiten in der Metallverarbeitung in unsere Heimat.

ES BEGANN IM ORIENT

Die ersten festen Siedlungen entstanden vermutlich vor ungefähr 10 000 Jahren in Mesopotamien. Dort war es damals feuchtwarm, und die Pflanzen gediehen üppig. Die ersten Bauern ließen sich in der Regel an Flüssen oder Seen nieder, weil sie viel Wasser benötigten. Vom Vorderen Orient aus breitete sich die neue, sesshafte Lebensweise in den nachfolgenden Jahrtausenden langsam über Südosteuropa, den Balkan und die Mittelmeergebiete nach Mitteleuropa aus. Die Menschen rodeten Wälder, legten Felder an und bauten Getreide und Hülsenfrüchte an. Aus der Haustierhaltung bezogen sie Fleischvorräte, außerdem Milch, Felle, Leder und Wolle.

Gräber und Tempel
Nachdem durch den Ackerbau für das körperliche Wohl ausreichend gesorgt war, wandte sich der Mensch der Befriedigung seiner seelischen Bedürfnisse zu. Davon künden Grabanlagen, Tempel und Kultstätten ebenso wie Flöten, Tonfiguren sowie bildliche Darstellungen auf Felswänden, Elfenbein oder Tierknochen.

TON UND KUPFER

Bedeutende Erfindungen dieser Zeit sind der Pflug zur Bearbeitung der Felder sowie hölzerne Karren mit Scheibenrädern, die von Rindern oder Pferden gezogen werden konnten. Als neuer Werkstoff wurde Ton zur Herstellung von Töpferware entdeckt. Und in der späteren Jungsteinzeit fand man Kupfer und lernte es zu vielerlei Gegenständen zu verarbeiten; daher werden die letzten rund 2 000 Jahre der Jungsteinzeit auch Kupferzeit genannt. Überschüsse aus Landwirtschaft, Handwerk und Bergbau führten zur Entstehung erster Formen des Tauschhandels über teilweise erstaunlich weite Entfernungen hinweg.

Bevölkerungswachstum
Die Neolithische Revolution brachte auch einen dramatischen Bevölkerungsanstieg mit sich. Zu Beginn der Jungsteinzeit lebten weltweit etwa 5 bis 10 Millionen Menschen als Jäger und Sammler. Bis zur Zeitenwende (Christi Geburt) stieg die Weltbevölkerung auf 200 bis 400 Millionen an.

Für Kinder und Jugendliche
verfasst von:
Roland Detsch

(© cpw, 2007)