Einwanderer

und

Auswanderer

 

Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte der Wanderungen. Bereits unsere ältesten Vorfahren machten sich vor 100 000 Jahren von Afrika aus auf den Weg in alle Welt. Bevor der Mensch sesshaft wurde, war er jahrtausendelang als Jäger und Sammler ständig auf der Wanderschaft. Doch auch in jüngerer Zeit kam es immer wieder zu Wanderungsbewegungen, ja zu regelrechten Völkerwanderungen. Aus den unterschiedlichsten Gründen verließen Menschen ihre angestammte Heimat und machten sich auf die Suche nach einer neuen Bleibe. Meist besiedelten sie menschenleere Gebiete. Doch oft verdrängten sie auch andere Völker oder vermischten sich mit ihnen. Auf diese Weise gingen Staaten und Kulturen unter und neue entstanden. Länder wie die USA, Kanada, die Staatenwelt Mittel- und Südamerikas sowie Australien und Neuseeland würde es ohne Einwanderer in ihrer heutigen Form gar nicht geben Die Ureinwohner wurden von den Einwanderern verdrängt und spielen dort kaum mehr eine Rolle.

PHÖNIZIER, GRIECHEN UND GERMANEN AUF WANDERSCHAFT

In der Antike wurde nahezu der gesamte Mittelmeerraum von den Phöniziern (um 1000 bis 500 v. Chr.) und den Griechen (um 750 bis 550 v. Chr.) „erschlossen” und besiedelt. Während die Phönizier eher Handelsniederlassungen gründeten, waren die Griechen meist durch Überbevölkerung und Hungersnot in ihren Städten gezwungen, auszuwandern und andernorts eine Kolonie zu gründen. Im Römischen Reich dagegen blieb die Bevölkerung vergleichsweise sesshaft, große Wanderungsbewegungen gab es nicht. Dafür bietet der Untergang des Römischen Reiches im 5. Jahrhundert ein spektakuläres Beispiel für die Auswirkungen von Völkerwanderungen: Schon seit dem 3. Jahrhundert hatten immer mehr germanische Stämme ihre ursprünglichen Siedlungsgebiete in Skandinavien und Norddeutschland verlassen und waren bis an oder sogar über die Grenzen des Römischen Reiches vorgedrungen.

Mit aller Macht setzte diese germanische Völkerwanderung dann im späten 4. Jahrhundert ein. Der eigentliche Auslöser war jedoch der „Hunnensturm”, der Ansturm des ostasiatischen Nomadenvolkes der Hunnen auf Europa. Der Hunnensturm hatte Fluchtbewegungen ganzer Völkerschaften zur Folge, hinzu kamen andere germanische Völker, die etwa zur selben Zeit ihre Heimat verließen. Sie alle, die fliehenden und wandernden Völker wie Goten, Wandalen und Langobarden, drangen in das Römische Reich vor. Unter diesem Ansturm brach das Römische Reich schließlich zusammen, und auf seinem Boden entstand nun eine Reihe neuer, germanischer Staaten. Die Völkerwanderung legte die Grundlagen für das heutige Gesicht Europas.

PILGERVÄTER UND SKLAVEN IN DER NEUEN WELT

Nach der Völkerwanderung, die im 6. Jahrhundert beendet war, herrschte fast ein Jahrtausend lang Ruhe. Bewegung kam in die Völker erst wieder, als Seefahrer jenseits der Meere die „Neue Welt” Amerika und andere fremde Länder entdeckten. Vor allem der amerikanische Kontinent lockte Einwanderer an. Reformation und Glaubenskriege zwangen im 16. und 17. Jahrhundert zahllose Menschen zur Flucht. Vor allem Protestanten, die in vielen Ländern Europas verfolgt wurden, suchten nun ihr Heil in der Neuen Welt. Darunter auch die Pilgerväter, eine radikale religiöse Gruppe, die in England verfolgt worden war. Sie gründete 1620 eine der ersten dauerhaften europäischen Kolonien in Nordamerika

Den steigenden Bedarf an Arbeitskräften in Südamerika deckten die Spanier und Portugiesen von Anfang an durch die Einfuhr afrikanischer Sklaven. In den niederländischen, französischen und englischen Kolonien in der Karibik und in Nordamerika wurden anfangs noch neben Sträflingen und Kriegsgefangenen so genannte „Kontraktarbeiter” aus Europa beschäftigt. Aber auch auf den Karibischen Inseln und im Süden Nordamerikas wurden auf den riesigen Plantagen bald zahllose aus Afrika verschleppte Sklaven eingesetzt.

Sklaven auf Zeit
Im 17. und 18. Jahrhundert bezahlten die meisten der Auswanderer ihre Überfahrt nach Nordamerika mit ihrer Arbeitskraft. Diese so genannten Kontraktarbeiter waren eigentlich Sklaven auf Zeit, denn sie mussten mehrere Jahre in der Neuen Welt ohne Lohn arbeiten, bevor sie sich aus ihrer Schuldknechtschaft befreit hatten und ein Leben als freier Mensch beginnen konnten. In Nordamerika wurden diese armen und ungelernten Kontraktarbeiter Redemptioner genannt, das heißt „Rückkäufer”. Im 17. Jahrhundert bezahlten mindestens drei Viertel der Auswanderer nach Nordamerika ihre Überfahrt durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft, im 18. Jahrhundert rund die Hälfte.

AUF NACH AMERIKA

Armut, Missernten, Unzufriedenheit, Revolutionen und Überbevölkerung lösten ab 1846 mehrere große Auswanderungswellen aus Europa aus. Bevorzugte Ziele waren mit weitem Abstand die USA, gefolgt von Kanada, Südamerika, Australien und Neuseeland. Antrieb war der Traum von Freiheit, Abenteuer und Reichtum. Viele hatten die Vorstellung, in der Neuen Welt sei alles irgendwie größer und besser. Und nicht wenige folgten dem Lockruf des Goldes. Gefördert wurde die Auswanderung durch die neue Errungenschaft der Dampfschifffahrt, die die Atlantiküberquerung verbilligte und von 44 auf 14 Tage beschleunigte.

Die meisten Auswanderer kamen von den Britischen Inseln, allen voran aus Irland. Wegen der Großen Hungersnot durch die Kartoffelfäule in den Jahren 1845 bis 1849 machten sich Hunderttausende Iren auf den Weg in die USA, weitere folgten nach dem 2. Weltkrieg (1939-1945). In die USA strebten im späten 19. Jahrhundert auch die meisten der englischen, schottischen und walisischen Auswanderer. Der Rest ging in die britischen Kolonien, insbesondere nach Australien, Neuseeland und Kanada. Von 1860 bis zur Weltwirtschaftskrise 1929 wanderten auch aus Italien viele Menschen aus: Fast 18 Millionen Italiener machten sich in andere Länder Europas oder nach Übersee auf, vor allem nach Amerika.

Ab etwa 1890 ging die Auswanderung nach Übersee aus West-, Mittel- und Nordeuropa stark zurück; die industrielle Entwicklung hatte einen steigenden Bedarf an Arbeitskräften nach sich gezogen, und damit war ein wichtiger Grund für die Auswanderung entfallen. Stattdessen wanderten nun immer mehr Menschen aus Süd- und Osteuropa nach Übersee aus. Anfang des 20. Jahrhunderts kamen zwei Drittel der Einwanderer in die USA aus diesen Regionen – auf dem Höhepunkt 2,15 Millionen aus Österreich-Ungarn, 1,6 Millionen aus Russland, fast eine Million osteuropäische Juden und annähernd 900 000 Polen. Diese so genannte „Neue Einwanderung” stieß in der Bevölkerung der USA erstmals auf Widerstand und wachsende Fremdenfeindlichkeit. Insgesamt haben die USA über 50 Millionen Einwanderer willkommen geheißen, mehr als jedes andere Land der Welt. Und obwohl sie ihre Einwanderungsbestimmungen erheblich verschärft haben, gewähren die USA noch heute jährlich rund 700 000 Ausländern die amerikanische Staatsbürgerschaft.

Die Auswanderung nach Übersee in Zahlen
Bildlich gleicht die Überseewanderung im 19. und frühen 20. Jahrhundert einer ansteigenden Wellenlinie. Bis 1830 wanderten durchschnittlich 50 000 Menschen im Jahr nach Amerika aus. In den Jahren 1846 bis 1850 schwoll die Auswanderungswelle auf das Fünffache und bis 1855 sogar auf das Siebenfache an. Von 1856 bis 1860 ebbte sie wieder auf einen Jahresdurchschnitt von 201 000 ab. Im Gefolge des Wirtschaftsaufschwungs nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg (1861-1865) und dem US-Regierungsprogramm zur Siedlungsförderung kam es zu einer zweiten Welle, die von 1871 bis 1875 durchschnittlich 372 000 Auswanderer nach Übersee führte. Nach kurzer Flaute baute sich von 1880 bis 1890 eine gewaltige Welle auf, die jährlich bis zu 779 000 Europäer nach Übersee beförderte, vorwiegend in die USA. Die letzte und größte Auswanderungswelle beförderte zwischen der Jahrhundertwende und dem 1. Weltkrieg 1914 im Jahresdurchschnitt bis zu 1,4 Millionen Menschen über den Atlantik. Danach nahm der Auswandererstrom allmählich ab und versiegte während der Weltwirtschaftskrise ab 1929 zum Rinnsal.

DEUTSCHE AUSWANDERER

Die deutsche Auswanderung nach Übersee führte in 90 Prozent aller Fälle in die USA. Sie erreichte zwischen 1880 und 1893 mit 1,8 Millionen Auswanderern ihren Höhepunkt. Nach drei großen Auswanderungswellen ebbte der deutsche Emigrantenstrom Ende des 19. Jahrhunderts vorübergehend ab. Erst zwischen den Weltkriegen suchten wieder viele Deutsche ihr Glück jenseits des Atlantiks. Während des Dritten Reiches (1933-1945) und des 2. Weltkrieges (1939-1945) wurden die USA für viele zum Zufluchtsort vor Verfolgung, Vernichtung und Tod. Im Emigrantenstrom aus Europa befanden sich mehr als 100 000 Deutsche und ab 1941 über 250 000 deutsche Juden. Eine Rückkehr kam für die meisten nicht mehr in Frage.

Die weitaus größten Bevölkerungsverschiebungen erlebte Deutschland in der Folge der beiden Weltkriege. Durch Flucht, Vertreibung und Zwangsumsiedlung verloren mehr als 20 Millionen Menschen ihre Heimat. Nach dem Ende des 2. Weltkrieges 1945 hatten viele Menschen den Wunsch, das zerstörte Deutschland zu verlassen, durften dies aber nicht. 1948 hoben die Siegermächte das Auswanderungsverbot auf, und nun machten sich Hunderttausende Deutsche und Österreicher auf den Weg nach Übersee. Erst als es in Deutschland in den fünfziger Jahren zum „Wirtschaftswunder” kam, versiegte der Strom der Auswanderer. Nun wurde Deutschland seinerseits interessant für Einwanderer.

Politische Flüchtlinge
Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein wurden in einigen europäischen Ländern – darunter Deutschland – revolutionäre, nationale, liberale und demokratische Bewegungen verfolgt. Diese Verfolgung brachte erstmals politische Flüchtlinge hervor. Politische Flüchtlinge unterscheiden sich von anderen Flüchtlingen u. a. durch die Wahl ihres Zufluchtsortes. Während es Glaubensflüchtlingen beispielsweise darum geht, ein Aufnahmeland zu finden, das ihnen religiöse Entfaltung ermöglicht, suchen sich politische Flüchtlinge in der Regel Länder, die ihnen Unterschlupf gewähren, und zwar möglichst solche, von denen aus sie auf die politische Entwicklung in ihrer Heimat Einfluss nehmen können. Beliebteste Auswanderungsländer für politische Flüchtlinge waren deshalb weniger die USA als die freiheitlicheren europäischen Asylländer Frankreich, Belgien, Schweiz und Großbritannien.

WIRTSCHAFTSWUNDER UND GASTARBEITER

Zu Zeiten des Wirtschaftswunders war die Bundesrepublik dringend auf ausländische „Gastarbeiter” angewiesen. Sie kamen aus der Türkei, Italien, Spanien oder Portugal nach Deutschland, und weil sie hier viel besser verdienten als in ihrer Heimat, übernahmen sie bereitwillig die schmutzigsten und anstrengendsten Arbeiten. Die meisten kamen zunächst ohne Familien und mit der Absicht, sich von ihren Ersparnissen in der Heimat eine Existenz aufzubauen. Den größten Anteil unter den Einwanderern nach Deutschland hatten die Türken. Über zwei Millionen haben hier eine neue Heimat gefunden. Viele türkische Familien leben bereits in der dritten Generation in Deutschland.

Deutsche Gastarbeiter in der Türkei
Weitgehend unbekannt ist, dass es zuerst die Deutschen waren, die in die Türkei auswanderten. Während des Dritten Reiches (1933-1945) flohen viele Juden und politische Gegner Hitlers dorthin, um Kemal Atatürk beim Aufbau eines modernen Staates zu unterstützen. So war z. B. die Hälfte aller Lehrstühle an der Universität Istanbul von deutschen Emigranten besetzt. Doch von den etwa 1 000 deutschen Auswanderern kehrten zwei Drittel nach dem Krieg wieder in ihre Heimat zurück. Der Rest wanderte in die USA aus. Nur ganze sechs deutsche Familien beantragten die türkische Staatsbürgerschaft.

„FESTUNG EUROPA”

Die Zeit, in der man „Gastarbeiter” nach Deutschland holte, ist vorbei. Heute möchte man die Zahl der Einwanderer möglichst gering halten. Dennoch versuchen vor allem Menschen aus der Dritten Welt vor Krieg, Verfolgung, Armut und Not nach Europa zu flüchten, weil sie sich hier ein besseres Leben erhoffen. Seit einigen Jahren wird aber die Einwanderung nach Deutschland und in die gesamte Europäische Union (EU) durch strenge Gesetze geregelt. Deshalb dürfen nur die wenigsten Einwanderer bleiben, auch wenn ihnen in ihrer Heimat Not und Verfolgung drohen. Viele bleiben verbotenerweise trotzdem in Deutschland oder einem anderen Land der EU – aus Angst, in ihre Heimat zurückkehren zu müssen. Menschen, die auf der Flucht vor Krieg und Verfolgung in anderen Ländern um Schutz nachsuchen, nennt man Asylbewerber.

Asylbewerber in Deutschland
Die Zahl der Asylbewerber, die in den Jahrzehnten zuvor bei der Zuwanderung nach Europa kaum ins Gewicht fielen, stieg in den neunziger Jahren rasant an. Von 1989 bis 1992 wurden in Deutschland mehr als eine Million Asylsuchende gezählt. Bis Mitte der siebziger Jahre kamen die meisten Flüchtlinge und Asylsuchenden aus dem kommunistischen Osteuropa, in den achtziger Jahren aus der Dritten Welt und seit dem Ende des „Kalten Krieges” wieder aus Ost- und Südosteuropa. Revolutionen, Kriege und Bürgerkriege beim Zerfall der Vielvölkerstaaten Sowjetunion und Jugoslawien setzten eine gewaltige Flucht- und Auswanderungsbewegung in Gang.

Für Kinder und Jugendliche
verfasst von:
Roland Detsch

(© cpw, 2007)