Familie

 

Manchmal gibt’s mit ihr auch Streit, aber sie ist unersetzlich: die Familie. Zu ihr gehörst du, ohne dass du etwas dafür getan hast. Familie steht für Gemeinschaft, Zusammenhalt, Fürsorge, Liebe und Geborgenheit. Sie soll jedem, der in sie hineingeboren ist, Halt und Stütze geben und bedeutet für viele Menschen Sinn und Mittelpunkt des Lebens. Der römische Dichter Lukrez (um 97 bis 55 v. Chr.) pries in seinem Lehrgedicht De rerum natura („Über die Natur”) die Gefühle der Gattenliebe und Elternliebe, die aus der familiären Vereinigung von Mann und Frau, Eltern und Kindern unter einem gemeinsamen Dach erwachsen, als eigentlichen Ursprung der Menschlichkeit.

Familie – das Wort kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „Hausgenossenschaft” – ist die Urform menschlicher Gesellschaft. Nüchtern betrachtet, dient sie zunächst der Arterhaltung und der Selbsterhaltung durch Fortpflanzung, gemeinsame Kinderaufzucht, gegenseitigen Schutz und Beistand. Eine Familie kann auch als Wirtschaftsgemeinschaft gesehen werden, die den Bedarf ihrer Mitglieder an Nahrung, Wohnung, Kleidung und den anderen Dingen des täglichen Lebens deckt.

Wer gehört zur Familie?
Familie ist ein weitläufiger Begriff. Er umfasst außer der Kernfamilie aus Vater, Mutter und Kindern auch sämtliche Verwandte und Angehörige. Die familiären Wechselbeziehungen zwischen Müttern, Vätern, Söhnen, Töchtern, Brüdern, Schwestern, Tanten, Onkeln, Cousins, Cousinen, Schwägern, Schwägerinnen, Großmüttern, Großvätern, Enkeln und Enkelinnen sind ausschlaggebend für das Verhältnis zwischen Jung und Alt in einer Gesellschaft. Die unterschiedlichen Generationen wohnen heute zwar überwiegend getrennt, halten meist aber engen Kontakt.

FAMILIE IM WANDEL

In der Menschheitsgeschichte spielt die Familie eine außerordentlich wichtige Rolle. Doch was zu welcher Zeit in welchem Kulturkreis unter dem Begriff „Familie” verstanden wurde, ist sehr unterschiedlich. Die Familie und was man darunter verstand und versteht, spiegelt in einzigartiger Weise die gesellschaftlichen Verhältnisse und ihren Wandel wider.

Im westlichen Kulturkreis, in dem wir leben, haben sich die Familienumstände in den letzten 30 bis 40 Jahren einschneidend geändert. Familie wird heute in vielfältiger Form gelebt: Es gibt verheiratete und unverheiratete Eltern, die ihre Kinder gemeinsam erziehen, Mütter und Väter, die ihre Kinder allein aufziehen, Stief- und „Patchwork”-Familien, Adoptionsfamilien und Pflegefamilien, Wohn- und Hausgemeinschaften. Nicht alle Familienformen werden freiwillig gewählt, sondern sind manchmal das Ergebnis von Trennungen und Todesfällen. In der Regel gehen sie jedoch aus freiwilliger Partnerschaft hervor. Anders als früher steht heute bei der Familiengründung weniger die Versorgungssicherheit im Vordergrund als vielmehr zwischenmenschliche Gefühle. Auch der Nachwuchs spielt eine andere Rolle: Kinder sind in der Regel eine Herzensangelegenheit und dienen nicht mehr direkt der eigenen Altersvorsorge.

Der Mittelpunkt des Lebens
Drei Viertel – also 75 Prozent – der Deutschen bezeichnen heute die Familie als ihren wichtigsten Rückhalt. Für mehr als 80 Prozent der Bevölkerung bedeutet sie laut einer Umfrage den Lebensmittelpunkt. Arbeit und Freizeit schneiden mit 54 und 28 Prozent deutlich schlechter ab. Mehr als 90 Prozent gaben an, dass sie mit ihrem Familienleben zufrieden sind.

FAMILIEN-„GESCHICHTE”

Bis weit ins 20. Jahrhundert herrschten bei uns noch sehr geordnete Familienverhältnisse mit langer Tradition vor. Sie gründeten sich auf das heilige Sakrament der Ehe und altüberlieferten Geschlechterrollen. Beim Blick weit zurück in die Geschichte der Familie kommt einem so manches bekannt vor. Denn die christliche abendländische Kultur, in der wir leben, ist wesentlich von den antiken Kulturen der Juden und Römer geprägt worden. Und deren Familienleben wollen wir nun etwas näher betrachten.

DIE „HÄUSER” ISRAELS

Um etwas über das Familienleben des jüdischen Volkes zu erfahren, braucht man nur die Bibel zu lesen. Die aus drei oder vier Generationen bestehende Großfamilie der Israeliten, in der Männer, Frauen, Kinder, Schwiegertöchter, Enkel und Sklaven zusammenlebten, wird in der deutschen Übersetzung der Heiligen Schrift als „Haus” bezeichnet. Die Hauptrolle spielte der „Hausvater” – zumeist der älteste Mann –, der die Familie in der Öffentlichkeit und beim Gottesdienst vertrat. Da einzelne Familien allein nicht lebensfähig waren, schlossen sich mehrere verwandte „Häuser” zu einer Sippe zusammen. Sippen, die ihre Abstammung auf einen gemeinsamen „Stammvater” zurückführten, bildeten einen Stamm. Die Stämme Israels, von denen im Alten Testament die Rede ist, betrachteten sich als Nachkommen der zwölf Söhne Jakobs, eines Enkels von Abraham.

DER RÖMISCHE PATER FAMILIAS

Der „Hausvater” begegnet uns als pater familias auch bei den alten Römern. Wie bei den Israeliten hatte auch der römische „Vater der Hausgenossenschaft” die volle Gewalt über sämtliche Familienangehörige, zu denen auch die Sklaven zählten. Dies ging sogar so weit, dass er sie ungestraft töten oder verkaufen konnte, wenn er es für nötig erachtete. Doch obwohl der römische pater familias der unumschränkte Gebieter war, fühlten sich seine Angehörigen selten geknechtet. Der Römer liebte seine Familie und wünschte sich recht viele Kinder, um den Fortbestand der Familie zu sichern. Außerdem vergötterte er seine Vorfahren und fürchtete ihren Zorn, wenn er seine Anvertrauten schlecht behandelte. Seine besondere Hochachtung genoss die mater familias oder matrona, die Mutter seiner Kinder. Sie war als „Hausfrau” für die Kindererziehung zuständig und teilte als Herrin über das Gesinde die Arbeit ein.

Der Hausvater im alten Rom
Einem römischen Familienverband gehörten auch zahlreiche „Klienten” an. Das waren freigelassene Sklaven ebenso wie Arme und andere nicht allzu gut Gestellte, die sich einen angesehenen römischen Hausvater als Schutz-„Patron” zu suchen pflegten. Der pater familias hatte übrigens Zeit seines Lebens Macht über seine Söhne. Selbst über deren Ehefrauen und Kinder, wenn sie verheiratet waren. Erst wenn er starb, wurden die Söhne frei und konnten ihrerseits zu allmächtigen Hausvätern aufsteigen.

DIE GERMANISCHE BAUERNKRIEGERSIPPE

Auch die Germanen hinterließen deutliche Spuren in unserem Familienleben, und zwar besonders im Familienleben der Großfamilien, die im deutschsprachigen Raum auf dem Land bis weit ins 20. Jahrhundert vorherrschte. Die germanischen Bauernkrieger siedelten in Einzelgehöften oder in Dörfern. Während die Frauen allein für die Feld- und Hausarbeit zuständig waren, gingen die Männer auf die Jagd oder zogen in den Krieg. Die Frau war nicht gleichberechtigt. Ihren Ehemann suchten die Verwandten aus. Mit der Heirat schied die Frau aus der Sippe ihres Vaters aus und gehörte von da an zur Sippe ihres Mannes. Alle Familien, die einen gemeinsamen Stammvater hatten, bildeten eine Sippe. Die Kinder gehörten dem Vater. Wenn er sie nach der Geburt auf seine Arme genommen und dadurch als rechtmäßig anerkannt hatte, waren sie in Familie und Sippe aufgenommen. Mann und Frau hielten bei den Germanen in der Regel in Treue zusammen. Für die Frauen stand auf Ehebruch der Tod.

Germanische Großfamilie mit Nachwirkung
Die bäuerliche Großfamilie der Germanen wurde zum Leitbild der Nationalsozialisten. Die natürlich anmutende Rangordnung, der Respekt vor dem Familienoberhaupt und die Einheit aus Arbeit und Familienleben passten hervorragend zur Staatsideologie von Blut und Boden im Dritten Reich.

DIE CHRISTLICHE HAUSHALTSFAMILIE

Die eheliche Eintracht und Treue bis zum Tod war in der christlichen Ehe unbedingtes Gebot. Noch heute sind in strenggläubigen katholischen Gesellschaften Ehescheidungen tabu. Bei uns war seit dem Mittelalter die Haushaltsfamilie die gängige Lebensform: Ehe und Familie dienten der Versorgungssicherheit; Liebe und Zuneigung waren zweitrangig. Und noch vieles andere hatte sie mit ihren jüdischen, römischen und germanischen „Vorgängerinnen” gemein: Der Familie gehörten nicht nur die Blutsverwandten, sondern auch das Gesinde an. Das Sagen hatte ausschließlich der männliche Haushaltsvorstand. Während er die Familie nach außen vertrat, war die Zuständigkeit der Frau nach innen gerichtet. Ihr oblag die Haushaltsführung und Kindererziehung und die Mithilfe im Familienbetrieb. Die Haushaltsfamilie war für die nächsten Jahrhunderte das Leitbild. Ihre überschaubare Ordnung und Größe, die beherrschende Stellung des Vaters, die Rolle der Mutter und die gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit finden sich auch in der Bürger- und der Arbeiterfamilie der Neuzeit wieder.

DIE DEUTSCHE KLEINFAMILIE

Durch das deutsche „Wirtschaftswunder” ein Jahrzehnt nach dem 2. Weltkrieg (1939-1945) brachten es selbst die „kleinen Leute” zu bescheidenem Wohlstand. In dieser Zeit bildete sich die Kleinfamilie heraus, deren höchstes Glück in einem Eigenheim bestand: der berufstätige Vater als Oberhaupt und Ernährer, die Mutter als Hausfrau und Erzieherin von ein bis zwei Kindern. Die Kleinfamilie der fünfziger Jahre ist bis heute lebendig geblieben. Mit einem Unterschied: Die jüngeren Frauen wollen nicht mehr das Heimchen am Herd spielen. Sie sind ebenso gut ausgebildet wie die Männer und mit der Rolle der Hausfrau nicht zufrieden. Da jedoch Familie und Beruf nur schwer in Einklang zu bringen sind, verzichten heute immer mehr Frauen auf Kinder.

Wie viel kostet ein Kind?
Fünf oder sechs Kinder in einer Familie waren früher nichts Ungewöhnliches, nicht selten hatte man sogar elf oder zwölf. Kinder waren u. a. eine Art Altersversicherung: Sie sorgten für ihre Eltern, wenn diese sich nicht mehr durch ihrer eigener Hände Arbeit ernähren konnten. Das ist heute anders. Zwar wachsen immer noch die meisten Kinder mit Geschwistern auf, aber schon jedes sechste Kind ist ein Einzelkind. Etwa jede dritte junge Frau wird überhaupt kein Kind mehr bekommen. Das sind zum einen gut ausgebildete Frauen, für die Beruf und Familie unvereinbar sind. Zum anderen können sich immer weniger Frauen Kinder leisten. Denn bis zum Ende seiner Ausbildung kostet ein Kind rund 300 000 Euro.

Für Kinder und Jugendliche
verfasst von
Roland Detsch

(© cpw, 2007)