Flucht und Vertreibung

 

Du weißt sicherlich, wo deine Heimat ist und wo du hingehörst. Leider geht es sehr vielen Menschen auf der Welt nicht so, sie sind heimatlos und auf der Flucht. Im Jahr 2003 befanden sich rund zwei Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg, Gewalt oder Katastrophen – überwiegend in der Dritten Welt. Die meisten von ihnen ließen Haus und Hof im Stich, weil sie wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volksgruppe, Religion oder wegen ihrer politischen Überzeugung um ihr Leben fürchten mussten. Andere zwang Armut, Hunger und Not dazu. Die meisten Flüchtlinge sind auf der Suche nach Schutz und Hilfe in andere Länder geflohen. Doch mehr als sechs Millionen Entwurzelte irren noch immer verzweifelt in ihren Heimatländern umher oder müssen sich dort vor ihren Verfolgern verstecken. Glücklich schätzen kann sich, wem es gelingt, über die Grenze in ein Nachbarland zu gelangen. Denn dann hat man gute Chancen, in die Obhut des Hohen Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR) genommen zu werden, das die Flüchtlinge zu schützen versucht.

RÜCKKEHR ODER ASYL?

Die meisten Flüchtlinge finden Zuflucht in angrenzenden Ländern. Sie leben dort häufig in Lagern, die vom UNHCR und ähnlichen Organisationen eingerichtet wurden. Die Mehrzahl der Flüchtlinge wartet darauf, dass sich die Lage in ihren Heimatländern so weit entspannt, dass sie zurückkehren können. Doch ein beträchtlicher Teil befindet sich in einer aussichtslosen Lage. Diesen Menschen bleibt nichts anderes übrig, als im Ausland um dauerhafte Aufnahme, also um Asyl zu bitten. Da aber die Gastländer in der Nachbarschaft der Krisengebiete angesichts der Flüchtlingsflut häufig überfordert sind, machen sich viele Flüchtlinge gezwungenermaßen auf in die Fremde, weit weg von ihrer Herkunftsregion und Kultur. Bevorzugte Ziele der Asylsuchenden sind Länder, wo Frieden und Wohlstand herrschen, wie etwa bei uns in Europa.

IST DAS BOOT SCHON VOLL?

Während die meisten wohlhabenden Staaten in den vergangenen 50 Jahren oft rasch und großzügig auf Flüchtlingskrisen reagierten, stehen Asylsuchende heute nicht selten vor verschlossenen Toren. Die Regierungen fühlen sich zwar eigentlich verpflichtet, den Asylsuchenden zu helfen, doch aus verschiedenen Gründen fällt es ihnen immer schwerer, ihre Verpflichtungen zur Menschlichkeit mit den innenpolitischen Verhältnissen in Einklang zu bringen. In Zeiten von Massenarbeitslosigkeit und Überlastung des Sozialstaates fürchten viele Bürger, dass eine allzu große Hilfsbereitschaft gegenüber Asylsuchenden auf ihre eigenen Kosten gehen könnte. Für Unmut unter den Bürgern und Abneigung gegen Asylbewerber sorgen außerdem vermeintliche und tatsächliche Fälle von Missbrauch des Asylrechts. Nicht wenige Politiker und Parteien haben die hohe Bedeutung des Themas Asyl erkannt und nutzen sie in Wahlkampfzeiten zum Stimmenfang. So kommt es, dass Flüchtlingen immer häufiger der Zugang zu einem sicheren Land verwehrt wird und Asylbewerber zur Zielscheibe für Fremdenfeindlichkeit und Rassenhass geworden sind – auch in Deutschland, das jahrzehntelang das vorbildlichste und freizügigste Asylrecht in ganz Europa hatte.

Die Reichen und die Flüchtlinge
In vielen Ländern Europas wurden Flüchtlinge in den letzten Jahren zunehmend Opfer von Gewalt und Einschüchterung - auch in Deutschland. Wegen ihrer anderen Kultur oder Hautfarbe schlägt ihnen Misstrauen entgegen, oder man lehnt sie rundweg ab, weil man sie als Konkurrenten um einen Arbeitsplatz sieht. Regierungen scheuen inzwischen auch nicht mehr davor zurück, Zuwanderer in Haft zu nehmen und abzuschieben, wenn ihr Asylgesuch abgelehnt wurde oder wenn sie als unrechtmäßige Zuwanderer gelten. Die wohlhabenden Länder machen sich Sorgen über die wirtschaftlichen und sozialen Kosten, die die Asylsuchenden ihnen verursachen. Auf der anderen Seite lassen sie die Entwicklungsländer, die die Hauptlast der Flüchtlingsströme verkraften müssen, mit diesem Problem weitgehend alleine und gewähren ihnen viel zu wenig Unterstützung.

DEUTSCHE HEIMATVERTRIEBENE

Dabei sollten es die Deutschen doch besser wissen, und zwar aus eigener bitterer Erfahrung. Kamen doch in den letzten Monaten und nach Ende des 2. Weltkrieges (1939-1945) rund 2,8 Millionen Deutsche durch Flucht und Vertreibung ums Leben. Aus Angst vor der sowjetischen Roten Armee flüchtete im letzten halben Jahr des Krieges 1945 ein Großteil der Deutschen aus den Ostgebieten Ostpreußen, Schlesien und Pommern Richtung Westen. Denn auf ihrem Siegeszug aus dem Osten nach Berlin nahmen Teile der Roten Armee Rache für die Gräuel, die die Deutschen den Russen in den Kriegsjahren zuvor angetan hatten.

Nach der Niederlage Deutschlands sicherte sich die Sowjetunion die eroberten deutschen Ostgebiete. Das meiste davon gab sie an Polen weiter als Ausgleich für polnische Gebiete, die sie sich selbst einverleiben wollte. Um eine Umsiedlung der polnischen Bevölkerung in die nun polnischen Gebiete zu ermöglichen, mussten die restlichen Deutschen, die noch nicht geflohen waren, raus. Sie wurden auf den Plätzen zusammengetrieben, ohne Verpflegung in Lagern gesammelt und dann in Zügen und Lastwagen in das kriegszerstörte Deutschland verfrachtet. Nicht anders erging es den Sudetendeutschen in der Tschechoslowakei und den Ungarndeutschen. Im Sommer 1945 begannen die neuen Regierungen in den gesamten ehemaligen deutschen Ostgebieten eine Massenausweisung, bei der Millionen Deutsche Hals über Kopf ihre Heimat verlassen mussten.

Obwohl die Siegermächte des 2. Weltkrieges beschlossen hatten, die Deutschen, die bei Kriegsende noch in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn lebten, auf „ordnungsgemäße und humane Weise” umzusiedeln, ging die Vertreibung mit äußerster Brutalität vonstatten. Das grausame Vorgehen rief in den westlichen Ländern vereinzelt Proteste hervor. Doch da die Gräueltaten des Nationalsozialismus noch in lebhafter Erinnerung waren, hatten die wenigsten Mitleid mit den Deutschen. Nach Kriegsende wurden etwa zwölf Millionen Menschen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten in den Westen vertrieben; 2,7 Millionen blieben in der Heimat zurück. Die deutschen Regierungen bemühten sich um eine rasche Eingliederung der neuen Bürger; der Staat half mit Entschädigungen, Renten und Darlehen denjenigen, die alles verloren hatten. Auf der Flucht vor Unterdrückung kamen von 1950 bis 1989 noch einmal etwa zwei Millionen „Volksdeutsche”, die in den östlichen Staaten geblieben waren, als „Spätaussiedler” in die Bundesrepublik Deutschland.

Landsmannschaften
Um die Erinnerung an die alte Heimat wach zu halten und die eigene Kultur zu bewahren, gründeten die Flüchtlinge und Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten Vereinigungen wie die „Sudetendeutsche Landsmannschaft” oder die „Landsmannschaft der Schlesier”. Ihre Forderungen nach Rückgabe, Entschädigung und Wiedergutmachung und ihre Weigerung, die Nachkriegsordnung anzuerkennen, stören bis heute immer wieder die Bemühungen um Aussöhnung mit den östlichen Nachbarn.

FLÜCHTLINGE HEUTE

Nach den schrecklichen Erfahrungen der Kriegs- und Nachkriegsjahre richteten die Vereinten Nationen 1951 den UNHCR zum Schutz der Flüchtlinge und Staatenlosen ein. Im selben Jahr trat die Genfer Flüchtlingskonvention in Kraft, die verbindliche Vorschriften zur rechtlichen Stellung und Behandlung von Flüchtlingen enthält. Sie wurde 1967 an die weltweite Flüchtlingsproblematik angepasst und inzwischen von 144 der 191 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen unterzeichnet.

Trotz UNHCR und Flüchtlingskonvention ist der Flüchtlingsstrom bis heute nicht abgeebbt. Eine große Flüchtlingswelle in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg löste z. B. der Vietnamkrieg (1946-1975) aus. Hunderttausende Flüchtlinge, die so genannten boat people, versuchten, vor dem Krieg zu fliehen, und irrten heimatlos in ihren meist viel zu kleinen Booten auf dem Meer umher. Der Bürgerkrieg in Ruanda im Jahr 1994 trieb weit über eine Million Menschen in die angrenzenden Länder; der gewaltige Flüchtlingsstrom löste Unruhen in der gesamten Region aus. Auch durch den Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien in den Jahren 1991 bis 1995 und durch den Kosovo-Konflikt 1999 wurden viele Menschen heimatlos. Sehr viele von ihnen suchten Schutz in Deutschland, manche leben noch heute hier, die meisten kehrten jedoch in ihre – inzwischen wieder vergleichsweise friedliche – Heimat zurück. Im Jahr 2003 lebten mehr als eine Million Flüchtlinge in Deutschland.

Rechte der Flüchtlinge
Der UNHCR unterscheidet zwischen anerkannten Flüchtlingen und Migranten. Flüchtlinge werden dazu gezwungen, ihre Heimat zu verlassen; Migranten dagegen tun dies in der Regel freiwillig (meist, um bessere Lebensbedingungen zu finden) und haben keinen Anspruch auf internationalen Schutz. In einigen Ländern Westeuropas werden Flüchtlinge, die vor Kriegen fliehen oder der Verfolgung durch nichtstaatliche Milizen oder Rebellen ausgesetzt sind, nicht als Asylberechtigte anerkannt. Der UNHCR ist dagegen der Ansicht, dass nicht ausschlaggebend ist, wer der Urheber der Verfolgung ist (also etwa staatliche Truppen oder Rebellentruppen), sondern ob der Staat die betreffende Person schützen kann oder will. Laut Genfer Flüchtlingskonvention hat aber jeder Flüchtling das Recht auf Sicherheit in einem anderen Land. Völkerrechtlicher Schutz bedeutet jedoch mehr als nur die Sicherheit der Person. Flüchtlinge genießen grundlegende Bürgerrechte wie Gedankenfreiheit, das Recht auf Bewegungsfreiheit und Anspruch auf Schutz vor Folter und erniedrigender Behandlung. Auch wirtschaftliche und soziale Rechte gelten gleichermaßen für Flüchtlinge. Sie sollen Zugang zu medizinischer Versorgung, Schulbildung und zum Arbeitsmarkt haben.

Für Kinder und Jugendliche
verfasst von:
Roland Detsch

(© cpw, 2007)