Recht und Gesetz

 

Willi hat zu seinem 15. Geburtstag ein nagelneues Mofa geschenkt bekommen. Sein Freund Andi erklärt sich bereit, den Motor ein bisschen aufzufrisieren, damit es schneller läuft. Dann will der zwölfjährige Pit aus der Nachbarschaft unbedingt auch einmal fahren und kracht schon an der nächsten Kreuzung in ein Auto. Zerrissene Hosen, Abschürfungen, ein schrottreifes Mofa und ein kaputter Kotflügel – es hätte schlimmer kommen können. Doch die Sache wird ein juristisches Nachspiel haben. Denn aus rechtlicher Sicht handelt es sich hier nicht mehr nur um Dummejungenstreiche, sondern um eine Reihe ernster Ordnungswidrigkeiten und sogar Straftaten.

In solchen Fällen leitet die Polizei die Sache an die Staatsanwaltschaft weiter. Diese erhebt „im Namen des Volkes” Anklage. Um sich seinen Schadensersatz zu sichern, kann der Autofahrer zusätzlich zivilrechtlich Anzeige erstatten.

Zuständig ist in jedem Fall das Jugendgericht, da alle Beteiligten unter 18 Jahre alt sind. Am schlimmsten wird es Willi treffen. Da er sein Mofa aufmotzen ließ, ist sein Versicherungsschutz erloschen. Als Halter des Mofas hat er sich überdies der Beihilfe zum Fahren ohne Fahrerlaubnis und ohne Versicherungsschutz, der Beihilfe zur Sachbeschädigung an dem Auto und der Beihilfe zur Körperverletzung an Pit schuldig gemacht. Da Pit mit seinen zwölf Jahren noch strafunmündig ist, hat für ihn der Unfall die geringsten Folgen. Das Zivilgericht wird aber darauf achten, dass er oder seine Eltern sich an den Kosten für die Schäden am Mofa und am Auto beteiligen. Auch gegen den 15-jährigen Andi wird die Staatsanwaltschaft ermitteln, und zwar wegen Beihilfe zum Fahren ohne Versicherungsschutz sowie wegen Beihilfe zur Sachbeschädigung und Körperverletzung. Das Verfahren wird aber vermutlich eingestellt werden, da sich eine Schuld nur schwer nachweisen lässt. Bei allen dreien müssten die Eltern haften, wenn sie ihre Aufsichtspflicht verletzt hätten.

Grundlage aller Anklagepunkte sind Recht und Gesetz.

RECHT STATT RACHE

Die Verwandtschaft von Wörtern wie Recht, richten, richtig, gerecht, Gericht, aufrecht und aufrichten deutet schon darauf hin, worum es geht. Das Recht ist die Gesamtheit der Regeln, die den Mitgliedern der Gesellschaft ein bestimmtes Verhalten vorschreiben.

Das Wort Gesetz wird als Überbegriff für die verbindliche Ordnung eines Gemeinwesens verwendet. Das Gesetz besteht aus einer Fülle von Einzelvorschriften, die man als Gesetze bezeichnet. Jedes einzelne Gesetz ist die rechtliche Regelung eines Teilbereichs des gesellschaftlichen Lebens. Im demokratischen Staat sind die Gesetze das Ergebnis von Beratungen und Abstimmungen im Parlament.

Ziel von Recht und Gesetz ist es, Auseinandersetzungen zu verhindern oder zu schlichten, um ein friedliches Zusammenleben zu gewährleisten. Die Achtung und Befolgung der Gebote und Verbote, der Rechte und Pflichten werden von staatlichen Instanzen wie Behörden, Polizei und Gerichten (Justiz) überwacht. Sie verkörpern die Staatsgewalt. Sozusagen als „Arm des Gesetzes” können sie das Recht notfalls mit Zwang durchsetzen, sofern sie dabei nicht gegen Menschen- und Bürgerrechte, also die Grundrechte, verstoßen.

Zur Wahrung seiner Rechte hat der Bürger die Möglichkeit, den „Rechtsweg” zu beschreiten, also sich an das Gericht zu wenden. Geschichtlich betrachtet hat das Recht somit die private Rache und das Recht des Stärkeren ersetzt. Menschen haben nämlich deshalb Staaten gegründet, um in Schutz und Sicherheit von Recht und Gesetz friedlich leben zu können. Aufgaben und Organisation des Staates werden durch Staats- und Verfassungsrecht geregelt. Das Völkerrecht dient der Friedenssicherung zwischen den Staaten.

SITTE UND TRADITIONALES RECHT

Recht und Gesetz im beschriebenen Sinn sind Erscheinungen der Neuzeit. Solange die Gemeinschaften, in denen die Menschen zusammenlebten, klein und überschaubar waren, bestimmten die alten, seit Generationen vererbten Gewohnheiten das Recht: wer was in der Familie oder Sippe zu sagen hatte, was jeder zu tun und zu lassen hatte, wie man sich die Arbeit teilte. All diese Gewohnheiten und Regeln hatten sich im Laufe längerer Zeiträume als zweckmäßig herausgestellt. Und indem es die Alten immer wieder an die Jungen weitergaben, wurde es zur Überlieferung, zur Tradition. Bei der Bestrafung von Regelverletzungen griff man oft zur Selbsthilfe, zu der manchmal auch die Blutrache gehörte. Recht war damals vor allem Gewohnheitsrecht.

GÖTTLICHES RECHT

In alter Zeit war die Vorstellung völlig fremd, dass Recht vom Menschen gemacht werden könnte. Als Ursprung allen Rechts galt die göttliche Weltordnung. Gesetzgeber konnte entweder nur ein Gott selbst sein oder jemand, der von Gott auserwählt war und seinen Befehlen gehorchte. Die Herrscher auf Erden hatten lediglich die Aufgabe, dieses göttliche Recht, das bei Bedarf immer wieder neu gefunden werden musste, zu bewahren, durchzusetzen und notfalls wiederherzustellen.

So kam es, dass sich Rechtsvorschriften jahrhundertelang kaum änderten. Und wenn, dann wurden sie nur sehr vorsichtig an neue Lebensbedingungen angepasst, stets mit Rücksicht auf das überlieferte Recht. Dies funktionierte bestens, solange in Europa alle Menschen im selben Glauben vereint waren. Doch das änderte sich schlagartig, als sich im 16. Jahrhundert die Kirche in eine katholische und eine protestantische spaltete und die alte Ordnung eines gemeinsamen christlichen Reichs in blutigen Religionskriegen zerbrach.

MACHBARES RECHT

Neue Staaten entstanden. Und um in ihnen wieder Ruhe und Frieden herzustellen, nahmen die Herrscher das Recht nun selbst in die Hand. Sie warfen das traditionelle Recht zwar nicht völlig über Bord, aber zu ihrer Rolle als Souveräne, also als unumschränkte Herrscher, gehörte eigene Rechtssetzung und Rechtsprechung. Damit veränderte sich das Verhältnis von Recht und Staat grundlegend. Recht wurde im wahrsten Sinne des Wortes machbar – und es konnte für politische Ziele eingesetzt werden. Von nun an stand die Politik über dem Recht und nicht mehr umgekehrt. Doch da gab es ein kleines Problem: Dass göttliches Recht gerecht war, stand für gute Christen außer Zweifel. Doch wie verhielt es sich mit dem „positiven Recht”? Das kommt vom lateinischen Wort positus, „gesetzt” und bedeutet Recht, das vom Menschen gesetzt wird, also Gesetz. War dieses positive Recht ebenfalls gerecht?

NATÜRLICHES RECHT

Im Zeitalter der Aufklärung bot sich das Naturrecht als neue Richtschnur für das positive Recht an. „Aufklärung” nennt man eine geistige Bewegung im 17. und 18. Jahrhundert, die den Menschen sozusagen aus der Dunkelheit jahrhundertelanger Unwissenheit und Gottesgläubigkeit in das Licht von Wissen und Vernunft führen wollte. „Alles in der Natur, sowohl in der leblosen als auch in der belebten Welt, geschieht nach Regeln”, schrieb der deutsche Philosoph Immanuel Kant (1724-1804). Von nun an sollte also das Naturrecht die Leitlinie für das menschliche Verhalten sein, und dieses Naturrecht konnte man mit Hilfe der natürlichen Vernunft erkennen. Das bot den Herrschern freilich viel Freiraum zu tun, was sie persönlich für richtig hielten – oder was ihnen persönlich nützte.

RECHT IM DIENSTE DES MENSCHEN

Die Frage der Gerechtigkeit klärte sich von selbst, als die Völker Ende des 18. Jahrhunderts begannen, gegen ihre Rechtlosigkeit unter der Herrschaft von König und Adel aufzubegehren. „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit” und Menschenrechte für alle – so lauteten die neuen Grundsätze des Naturrechts nun im bürgerlichen Zeitalter, in jener Zeit also, in der das Bürgertum die Macht übernommen hatte oder wenigstens auf dem besten Wege dazu war. Das Recht wurde von nun an in den Dienst des Menschen gestellt, und zwar in den Dienst eines jeden Einzelnen zur Sicherung seiner Freiheit und Menschenwürde. Die Gesetzgebung kam in die Zuständigkeit der Parlamente, die gewählten Volksvertretungen, und das ist bis heute noch so.

SIEGESZUG DES POSITIVEN RECHTS

Um den raschen gesellschaftlichen Wandel in geordnete Bahnen zu lenken, war eine Fülle neuer rechtlicher Regelungen notwendig. Zusätzlichen Schub bekam das Ganze durch die industrielle Revolution: Sie krempelte die gesamte Gesellschaft um, brachte ein völlig neues, ungezügeltes Wirtschaftsleben hervor und sorgte für nie gekannte Ungerechtigkeiten. All dem musste man nun mit Recht und Gesetz beikommen. Der Regelungsbedarf der modernen Industriegesellschaft ist bis heute nahezu unerschöpflich geblieben.

Für Kinder und Jugendliche
verfasst von:
Roland Detsch

(© cpw, 2007)