Russische Revolution

 

Ein Augenzeuge berichtete von kurzem Gewehrfeuer in der Dunkelheit. Die Leute begannen zu rennen und warfen sich flach auf den Boden. Nach einigen Minuten war alles wieder ruhig. Soldaten in den verschiedensten Uniformen liefen ziellos hin und her, unablässig redend. Doch ein paar Straßen weiter ging das Leben in der russischen Hauptstadt Petrograd (heute Sankt Petersburg) seinen gewohnten Gang: überfüllte Straßenbahnen, wogende Menschenmassen, erleuchtete Schaufenster, die Reklame der Lichtspieltheater.

Einige Stunden später wälzte sich aus dem Treppenhaus des Obersten Sowjets der Stadt eine dunkle Menge: Arbeiter in Blusen und runden schwarzen Pelzmützen, die meisten mit Gewehren bewaffnet; Soldaten in rauen, erdfarbenen Mänteln und flachen grauen Pelzmützen. „Der Sowjet ist überzeugt, dass das Proletariat der westeuropäischen Länder uns helfen wird, die Sache des Sozialismus zum vollen und dauernden Siege zu führen”, erklärte einer der Anführer nach der Sondersitzung. „Dann meinen Sie also gesiegt zu haben?”, fragte ein Journalist. Er zuckte die Schultern.

DER UMSTURZ

Diese Ereignisse in der Nacht vom 24. auf den 25. Oktober nach dem damals gültigen russischen Kalender ist als die „Große Oktoberrevolution von 1917” in die Geschichte eingegangen. So kurz und schmerzlos sich der Umsturz auch vollzogen haben mag (er soll gerade einmal sechs Todesopfer gefordert haben) – seine Folgen waren gigantisch. Die Machtübernahme durch sozialistische Revolutionäre begründete völlig neue politische Verhältnisse in Russland. Sie sollten über 70 Jahre lang Bestand haben und den weiteren Verlauf der Weltgeschichte entscheidend beeinflussen.

Oktober- oder Novemberrevolution?
Bis zur Revolution galt in Russland noch der alte julianische Kalender, in dem keine Schaltjahre vorgesehen waren. Nach dem bei uns gültigen gregorianischen Kalender fand die Oktoberrevolution in der Nacht vom 6. auf den 7. November 1917 statt und war somit eigentlich eine Novemberrevolution.

DER BLUTSONNTAG VON 1905

Die Russische Revolution beschränkte sich jedoch nicht auf die Oktoberrevolution; die Oktoberrevolution bildete nur den Höhepunkt einer ganzen Reihe von Ereignissen. Alles begann am Sonntag, dem 22. Januar 1905, als 200 000 Demonstranten, in der Mehrzahl Fabrikarbeiter, vor den Winterpalast von Zar Nikolaus II. in Sankt Petersburg zogen. Obwohl sie nur auf ihre Not aufmerksam machen und den Zaren um Hilfe bitten wollten, schossen die Soldaten des Zaren in die friedliche Menge. 500 Menschen starben. Nach diesem „Blutsonntag” kam es beinahe überall im Land zu Unruhen.

In den folgenden Monaten entstanden revolutionäre Gruppen, denen sich auch Teile des Militärs anschlossen. Als sich der Aufstand zum Generalstreik ausweitete, sah sich der Zar zu Zugeständnissen gezwungen. Er versprach, seine uneingeschränkte Macht mit Volksvertretern zu teilen, und bewilligte dem Volk Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Vertreter der Arbeiterschaft in den großen Städten formierten daraufhin Räte (russisch: Sowjet). Doch diese hatten ebenso wenig politischen Einfluss wie die Duma, die neu geschaffene Volksvertretung.

DIE FEBRUARREVOLUTION VON 1917

Um die Jahreswende 1916/17 wurde die Lage in Russland zunehmend unhaltbar. Das Land erlebte im 1. Weltkrieg mehr Niederlagen als Siege, Bevölkerung und Soldaten litten gleichermaßen unter Hunger und Lebensmittelknappheit, und das Jahr 1917 begann noch dazu mit außergewöhnlicher Kälte von bis zu 40 ° unter Null. Unruhen und Demonstrationen gegen Krieg, Hunger und Zar wurden immer häufiger, Streiks waren allmählich an der Tagesordnung und wuchsen sich zu einem Aufstand aus. Ende Februar befahl der Zar den Petrograder Truppen, den Aufstand niederzuschlagen. Aber bald weigerten sich die Truppen, auf das eigene Volk zu schießen, und liefen in Scharen zu den Aufständischen über.

Der Zar war machtlos. Im März 1917 zwang ihn die Duma abzudanken. Wenig später wurden er und seine Familie festgenommen und nach Sibirien verbannt. Die Abgeordneten der Duma riefen die Republik aus und bildeten eine Provisorische (vorläufige) Regierung, die jedoch von vielen Sowjets nicht anerkannt wurde. In weiten Teilen der kriegsmüden und leidenden Bevölkerung herrschte Unmut darüber, dass auch die Provisorische Regierung gar nicht daran dachte, endlich Frieden zu machen.

DIE ANKUNFT DER BERUFSREVOLUTIONÄRE

Es entbrannte nun ein erbitterter Machtkampf zwischen einigen Parteien. Die Bolschewiki, die russischen Sozialisten, hielten die Gelegenheit für einen Umsturz für günstig. Doch ihre Führer mit Wladimir Iljitsch Lenin an der Spitze lebten seit einiger Zeit im Exil in der Schweiz. Angesichts ihrer aussichtslosen Lage im 1. Weltkrieg kamen der militärischen Führung des Deutschen Reiches die innenpolitischen Schwierigkeiten in Russland, einem ihrer Hauptkriegsgegner, sehr gelegen. Um die Unruhen weiter zu schüren, beförderte sie Lenin und seinen Getreuen in einem verschlossenen Eisenbahnwaggon quer durch Deutschland Richtung Russland. Am 3. April 1917 trafen die Revolutionäre in Petrograd ein und stürzten sich sogleich ins revolutionäre Getümmel. Mit Forderungen nach Frieden, Brot und Land und Parolen wie „Alle Macht den Sowjets” machten sich die Bolschewiki rasch viele Freunde.

Das Ziel der Bolschewiki
Die Bolschewiki waren Anhänger der Lehren von Karl Marx. Sie glaubten an die Befreiung der unterdrückten und ausgebeuteten Arbeiterklasse durch eine Revolution. Sie kämpften für den Sozialismus, der alle Menschen gleich machen sollte. Die Bolschewiki waren eine kleine, aber gut organisierte Gruppe, und ihr führender Kopf war Wladimir Iljitsch Lenin.

DIE OKTOBERREVOLUTION VON 1917

Lew Dawidowitsch Trotzkij, Lenins wichtigster Mitstreiter, übernahm im September 1917 den Vorsitz des Obersten Sowjets in Petrograd. Er stellte insgeheim bewaffnete Sturmtrupps aus Freiwilligen auf, die so genannten Roten Garden, die zu allem bereit waren. Ohne nennenswerten Widerstand besetzten die Garden in der Nacht vom 24. auf den 25. Oktober die wichtigsten Punkte in Petrograd. Revolutionäre Matrosen brachten den Panzerkreuzer Aurora in ihre Gewalt. Sie lenkten das Kriegsschiff die Newa hinauf und richteten die Kanonen auf den Winterpalast, wo sich die Regierung verschanzt hatte. Ein einziger Schuss genügte, um den Palast sturmreif zu machen und die Regierung gefangen nehmen zu können. Die Revolution hatte gesiegt.

Noch am 25. Oktober 1917 trat in Petrograd der Allrussische Sowjetkongress zusammen, den Trotzkij in weiser Voraussicht für diesen Tag einberufen hatte. Die Bolschewiki unter der Führung Lenins verfügten in dieser Volksvertretung nicht einmal über die Hälfte der Sitze. Aber es gelang ihnen gleich in der ersten Sitzung des Kongresses, die Macht zu übernehmen – nachdem die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre im Streit den Kongress verlassen hatten. Am darauf folgenden Tag bildete dieser verkleinerte Kongress einen Rat der Volkskommissare (Minister), der nun die Regierung übernahm. Lenin wurde Vorsitzender dieses Rates, also Regierungschef.

Der Rat der Volkskommissare verkündete sogleich zwei wichtige Beschlüsse: Er bot allen Staaten, die gegen Russland Krieg führten, einen sofortigen Frieden an, und er enteignete alle Großgrundbesitzer.

Bolschewiki und Menschewiki
Der Name der Bolschewiki ging auf eine Abstimmung in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands SDAPR vom Sommer 1903 zurück. Lenin fand dabei mit seiner Forderung nach einer straffen Organisation der Partei unter der Führung von Berufsrevolutionären eine Mehrheit (russisch: bolschinstwo). Die Minderheit (russisch: menschinstwo) in der Partei wurde seither Menschewiki genannt. 1912 trennten sich die Bolschewiki von der SDAPR und wurden eine eigene Partei.

FRIEDEN UM JEDEN PREIS

Mit dem Friedensangebot war der Weg frei für einen Waffenstillstand mit den Mittelmächten Deutschland und Österreich-Ungarn: Am 15. Dezember 1917 wurde ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet. Da die Verbündeten Russlands nicht an einem Friedensschluss mit den Mittelmächten interessiert waren, nahm Russland allein Friedensverhandlungen mit Deutschland auf. Ergebnis war der Friede von Brest-Litowsk. Russland musste Finnland, Estland, Lettland, Litauen, Polen und die Ukraine abtreten. Es verlor damit große Rohstoffvorkommen, wichtige Industriegebiete, riesige Ackerflächen und ein Viertel seiner Bevölkerung. Nur unter Protest unterschrieben die Russen am 3. März 1918 diesen „Diktatfrieden”. Aber Lenin brauchte diesen Frieden um jeden Preis, um in Ruhe die Herrschaft der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte durchsetzen und Russland in eine Sowjetrepublik umwandeln zu können.

DER „ROTE TERROR”

Schon im Dezember 1917 war eine verfassunggebende Versammlung gewählt worden. Aber auch hier waren die Bolschewiki wieder nur in der Minderheit, sie hatten etwa ein Viertel der Sitze. Bei ihrem ersten Zusammentreten im Januar 1918 lösten die Bolschewiki daher die Versammlung gewaltsam wieder auf. Danach schalteten die Bolschewiki alle politischen Rivalen rücksichtslos aus. Lenin selbst bezeichnete diese Aktion als „roten Terror”. Bürgerliche Parteien wurden verboten, Sozialdemokraten und unabhängige Revolutionäre aus den Sowjets verdrängt. Zur allmächtigen politischen Kraft stiegen die Bolschewiki auf, nun unter dem Namen Kommunistische Partei Russlands (Bolschewiki), abgekürzt KPR(B). Großbürgertum, Großgrundbesitzer und Anhänger des Zaren mussten um ihr Leben bangen. Nikolaus II. wurde im Juli 1918 zusammen mit seiner Familie ermordet.

Im März 1918 zog die Regierung nach Moskau in den Kreml um. Am 10. Juli 1918 wurde die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (RSFSR) gegründet. Und am 30. Dezember 1922 entstand aus der RSFSR und drei weiteren Sowjetrepubliken die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR).

Schon bald nach der Machtübernahme durch die Bolschewiki begannen deren Gegner, unterstützt aus dem Ausland, einen jahrelangen, grausamen Bürgerkrieg. Jedoch kämpften sie vergeblich gegen die neuen Machthaber an. Auf der anderen Seite erfüllte sich auch Lenins Erwartung nicht – die Erwartung, dass die erfolgreiche russische Revolution in ganz Europa Schule machen und die alten Regierungen hinwegfegen würde.

Für Kinder und Jugendliche
verfasst von:
Roland Detsch

(© cpw, 2007)