Sowjetunion

 

Die einen sahen in ihr das „Paradies der Werktätigen”, die anderen das „Reich des Bösen”. Mit Ausnahme des nationalsozialistischen Dritten Reiches, das bereits nach zwölf Jahren wieder unterging, hat nichts die Geschichte des 20. Jahrhunderts stärker beeinflusst als die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR), kurz: Sowjetunion, die 69 Jahre Bestand hatte. Ihr Gründungsdatum war der 30. Dezember 1922, doch sie war das Ergebnis eines Prozesses, der bereits 1917 mit dem Sieg der Oktoberrevolution in Russland seinen Anfang genommen hatte.

VORGESCHICHTE

Wenige Monate nachdem Aufständische den Zaren abgesetzt und in Russland die Republik ausgerufen hatten, stürzten am 25. Oktober 1917 (nach dem damals in Russland gültigen julianischen Kalender) die kommunistischen Bolschewiki unter der Führung von Wladimir Iljitsch Lenin die neue bürgerliche Übergangsregierung und übernahmen gewaltsam die Macht. Vergeblich kämpften Anhänger des Zaren, enteignete Besitzbürger, gemäßigte Sozialisten und Demokraten mit Hilfe aus dem Ausland gegen die neuen Machthaber an. Nach einem jahrelangen mörderischen Bürgerkrieg, der etwa elf Millionen Todesopfer forderte, mussten sich ihre Weißen Garden nicht zuletzt mangels Rückhalt in der Bevölkerung im Herbst 1920 der kommunistischen Roten Armee beugen. Damit war der Weg frei für die Staatsgründung der UdSSR.

Riesenreich Sowjetunion
Die Sowjetunion, die außer Russland auch die schon von den Zaren eroberten Staaten Mittelasiens sowie das Baltikum einschloss, war der größte zusammenhängende Staat, den es jemals auf der Erde gegeben hat. Sie umfasste rund 22 Millionen Quadratkilometer - ein Sechstel der weltweiten Festlandsfläche. Allerdings bestanden weite Gebiete aus unwirtlicher, lebensfeindlicher Natur und waren kaum nutzbar. In den Grenzen des Riesenreiches lebten über 150 verschiedene Volksgruppen, von denen die in Russland, Weißrussland und der Ukraine beheimateten Slawen allerdings bei weitem die Mehrheit stellten. Nach der Oktoberrevolution 1917 wurden alle Völker der Sowjetunion gleichberechtigt und in kultureller Beziehung selbständig. Die 15 sozialistischen Sowjetrepubliken waren: Armenien, Aserbaidschan, Estland, Georgien, Kasachstan, Kirgisien, Lettland, Litauen, Moldawien, Russland, Tadschikistan, Turkmenistan, Ukraine, Usbekistan und Weißrussland.

ALLMACHT DER KOMMUNISTEN

Die Sowjetunion war dem Namen nach ein Bundesstaat, bestehend aus zuletzt 15 Republiken. In den Unionsrepubliken, die alle der Form nach gleichberechtigt waren, übten so genannte Sowjets („Räte”) die Regierungsgewalt aus. In ihren Entscheidungen waren sie selbständig – zumindest auf dem Papier. Denn die beherrschende politische Kraft war überall die aus den revolutionären Bolschewiki hervorgegangene Kommunistische Partei Russlands, die später in Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) unbenannt wurde. Alle Funktionäre (Amtsträger) in Politik und Verwaltung waren Mitglieder der Kommunistischen Partei. Da sie sich unbedingt an die Weisungen der allmächtigen Parteiführung zu halten hatten, war die Sowjetunion in Wirklichkeit ein zentral gelenkter Einheitsstaat. Der Parteichef war in der Regel zugleich Staatschef. Er hatte zusammen mit dem Obersten Sowjet, dem Parlament der Sowjetunion, seinen Sitz in der alten Moskauer Stadtfestung, dem Kreml.

ZU NEUEN UFERN

Unter der Herrschaft der Kommunisten erfolgte ein gewaltiger politischer und wirtschaftlicher Umbruch, der das russische Riesenreich innerhalb weniger Jahrzehnte stärker veränderte als Jahrhunderte der Zarenherrschaft zuvor. Die Revolution wurde anfangs von der Masse der verelendeten russischen Bevölkerung begrüßt. Die Kommunisten verstanden es, bei den bislang bedeutungslosen und benachteiligten einfachen Leuten das Gefühl zu wecken, ein wichtiges Glied bei der Verwirklichung einer großartigen Idee zu sein. Sie stellten eine rosige Zukunft in Aussicht und verlangten von den gegenwärtigen Generationen Aufopferungsbereitschaft für ihre Söhne, Töchter und Enkelkinder.

VERSTAATLICHUNG UND BODENREFORM

Zum Ansehen der neuen Machthaber und ihrer Gefolgschaft beim einfachen Volk trugen radikale Maßnahmen bei, die sich gegen die Vertreter der alten Ordnung richteten. Industriebetriebe und Banken wurden verstaatlicht, der private Handel wurde verboten und die Verteilung der Güter von der Regierung organisiert. Die Bodenreform von 1917 erklärte allen Grundbesitz zu Staatseigentum. Fast 153 Millionen Hektar Land (das entspricht ungefähr dem Vierfachen der Fläche Deutschlands!) wurden zur Nutzung an die besitzlosen Bauern verteilt. Frauen erhielten Gleichberechtigung, Schulen und Universitäten wurden für alle Menschen geöffnet. Durch die Einführung der gesetzlichen Schulpflicht konnte die Analphabetenrate unter der Sowjetherrschaft innerhalb einer Generation von 57 auf unter 10 Prozent gesenkt werden. Aber es wurde auch die Ausübung der Religion verboten, der größte Teil der Kirchen und Klöster wurde zerstört oder zu völlig anderen Zwecken verwendet, und der Besitz der Kirche kam in staatliche Hand.

Agrarland Russland
Russland war zur Zeit der Zarenherrschaft ein ausgesprochener Agrarstaat, in dem etwa 80 Prozent der Bevölkerung von der Landwirtschaft lebten. Weit mehr als die Hälfte des Bodens befand sich im Eigentum von adligen Großgrundbesitzern, Klöstern und Großbauern. Den Rest teilten sich viele Millionen Kleinbauern, von denen jeder nur ein kleines Stück nutzbares Ackerland besaß.

STALINISTISCHE DIKTATUR

Nach Lenins Tod am 21. Januar 1924 entbrannte ein erbitterter Machtkampf an der Parteispitze, aus dem der skrupellose Georgier Jossif Wissarionowitsch Dschugaschwili, genannt Stalin („der Stählerne”), als Sieger hervorging. Er schaltete mit äußerster Brutalität alle ehemaligen Weggefährten Lenins aus, errichtete eine allumfassende Diktatur und verwandelte die Sowjetunion in einen Polizeistaat.

Zur Beseitigung vermeintlicher Gegner unterzog Stalin in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts Partei, Verwaltung, Armee und Industrie einer „Großen Säuberung” (russisch: Tschistka). Zwischen 1934 und 1938 fielen 80 Prozent der Parteiführung, 70 Prozent aller Offiziere und 12 Millionen weitere Sowjetbürger dem stalinistischen Terror zum Opfer. Rund 15 Millionen Häftlinge, darunter viele Frauen und Kinder, wurden gezählt, als nach Stalins Tod 1953 die berüchtigten Straflager aufgelöst wurden.

ZWANGSKOLLEKTIVIERUNG

Nach Lenins Motto „Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes” trieb Stalin die wirtschaftliche Entwicklung des Landes voran. Auf der Grundlage von „Fünfjahresplänen” wandelte er rücksichtslos den Agrarstaat in einen Industriestaat um. Dazu ließ er zwei bis drei Millionen Kulaken (Kleinbauern) von ihrem Grund und Boden vertreiben und die vielen unrentablen Kleinbetriebe zu großen Kollektivwirtschaften (Gemeinschaftsbetrieben) zusammenfassen. Wer sich widersetzte, wurde „liquidiert” – sprich: getötet – oder zu Lagerhaft und Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt, was häufig auf dasselbe hinauslief.

Ergebnis der Kollektivierung waren die Kolchosen. Kolchosen waren (Zwangs-)Genossenschaften, in denen die Bauern ganzer Dorfgemeinden den Boden als landwirtschaftliche Staatsarbeiter gemeinsam bewirtschafteten. Wie die Fabrikarbeiter hatten sie dabei eine festgesetzte Norm zu erfüllen und wurden mit einem bestimmten Anteil am Gesamtertrag entlohnt. Ein Stück Gartenland und einige Stück Vieh wurden den Kolchosebauern als Privatbesitz belassen. Daneben gab es noch die Sowchosen; das waren riesige staatliche Mustergüter.

Planwirtschaft und Fünfjahrespläne
Stalin führte eine rücksichtslose Planwirtschaft ein. Grundlage und Richtschnur der Planwirtschaft waren die „Fünfjahrespläne”. In den Fünfjahresplänen wurden die Ziele festgelegt, die innerhalb von fünf Jahren erreicht werden mussten. So wurde z. B. die Menge an Stahl vorgeschrieben, die die Stahlindustrie innerhalb von fünf Jahren zu produzieren hatte, oder die Menge an Weizen, die geerntet werden musste. Die Ziele, die in den Fünfjahresplänen vorgegeben wurden, mussten erreicht werden - egal wie.

VOM AGRARSTAAT ZUR INDUSTRIEMACHT

Alles wurde dem Ausbau der Schwerindustrie (Bergbau, Eisen- und Stahlindustrie) untergeordnet – einschließlich der Produktion von Gütern des täglichen Bedarfs, die nur noch auf Sparflamme lief. Während die westlichen Länder an den Folgen der 1929 ausgebrochenen Weltwirtschaftskrise litten, wuchs die Sowjetunion in kurzer Zeit zum zweitmächtigsten Industriestaat der Erde heran. Dies brachte Stalin und dem kommunistischen Modell im Ausland viel Ansehen ein. Dass Millionen Sowjetbürger diesen beispiellosen wirtschaftlichen Kraftakt mit Entbehrungen, Hunger und Tod bezahlt hatten, war lange Zeit unbekannt. Ohne das Schreckensregiment Stalins, das stummen Gehorsam erzwang, wären die Belastungen des Volkes kaum möglich gewesen.

Den Kapitalismus überholen
Im Vergleich zum westlichen Europa war die Industrialisierung in Russland unter der Zarenherrschaft nur wenig vorangekommen. Die Kommunisten waren nun bestrebt, das Land von ausländischen Einfuhren weitgehend unabhängig zu machen. Schon 1921 hatte Lenin den ehrgeizigen Plan, durch staatlich verordnete Industrialisierung den Vorsprung des Westens nicht nur einzuholen, sondern die „kapitalistischen” Länder nach Möglichkeit zu überholen, um so einer Auseinandersetzung mit ihnen in jeder Hinsicht gewachsen zu sein.

GEBURT EINER SUPERMACHT

Wie stark die Sowjetunion geworden war, zeigte sich besonders deutlich im 2. Weltkrieg (1939-1945). Mit einem beeindruckenden Vorrat an Waffen stellte sich die weit unterschätzte Rote Armee den gut gerüsteten deutschen Truppen entgegen und schlug sie schließlich zurück. Der Sieg im 2. Weltkrieg trug entscheidend zum Aufstieg der UdSSR zur Weltmacht bei. Stalin betrachtete die von der Roten Armee befreiten Länder Osteuropas einschließlich des sowjetisch besetzten Ostdeutschlands (ab 1949 DDR) als Kriegsbeute. Politik und Wirtschaft in diesen Ländern wurden nach den Wünschen und Erfordernissen der Sowjetunion umgestaltet.

EISERNER VORHANG UND KALTER KRIEG

Der so genannte Ostblock, also die Sowjetunion samt ihren sozialistischen „Bruderstaaten” in Ost- und Mitteleuropa, war vom Westen durch eine undurchlässige Grenze abgeschottet – der britische Premierminister Winston Churchill nannte sie „Eisernen Vorhang”. In den Jahren nach dem 2. Weltkrieg mussten die Bruderstaaten in großen Mengen Lebensmittel, Rohstoffe und Fertigwaren in die vom Krieg arg zerstörte und erschöpfte Sowjetunion liefern. Umgekehrt erhielten diese Länder, die manchmal industriell noch recht rückständigen waren, keine Wirtschaftshilfe aus der Sowjetunion. Denn die Sowjetunion war nach dem Krieg vollauf mit dem Wiederaufbau des eigenen Landes beschäftigt. Erst später kehrte sich das Verhältnis um: Dann versorgte die Sowjetunion ihre Bruderländer u. a. mit Rohstoffen wie Erdöl und Erdgas, leistete umfangreiche Wirtschaftshilfe und unterstützte z. B. auch Universitäten und andere Forschungs- und Bildungseinrichtungen in den Bruderländern großzügig.

Von Bedeutung waren die „Satellitenstaaten” innerhalb des Ostblocks (Polen, Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und die Deutsche Demokratische Republik) für die Sowjetunion vor allem in militärischer und machtpolitischer Hinsicht. Sie stellten ein wichtiges Machtmittel für die sowjetische Außenpolitik im Kalten Krieg mit den USA und ihren westlichen Verbündeten dar. Aufstände in der DDR (1953) und Ungarn (1956) gegen die dortigen sozialistischen Regierungen wurden von der Roten Armee niedergeworfen.

TAUWETTER UND STILLSTAND

In der Innenpolitik setzte nach Stalins Tod unter dem neuen Staatschef Nikita Chruschtschow ab 1953 die so genannte „Tauwetter”-Periode ein. Der stalinistische Terror und die Verherrlichung der Person Stalin wurden verurteilt, und es wurde eine marktgerechtere Landwirtschaftspolitik eingeleitet. Man sprach von einer „Entstalinisierung”. Die UdSSR feierte große Erfolge in Wissenschaft und Technik, beispielsweise in der Raumfahrt. Unwirksame Wirtschaftsreformen führten 1964 jedoch zum Sturz von Chruschtschow. Sein Nachfolger Leonid Breschnew setzte die von Stalin begründete Vorherrschaft in Osteuropa fort; Reformbestrebungen in den Satellitenstaaten wie im so genannten Prager Frühling 1968 in der Tschechoslowakei ließ er gewaltsam beenden. Politisch und wirtschaftlich war die lange Regierungszeit Breschnews (1964-1982) von Erlahmung und Stillstand geprägt.

Die kapitalistischen Länder einzuholen und zu überholen blieb ein Wunschtraum. Nach den gewaltigen Anfangserfolgen der ersten Jahrzehnte geriet die sowjetische Wirtschaft und Entwicklung zunehmend ins Stocken. Mehr und mehr offenbarten sich die Schwächen der Planwirtschaft. Durch die Verstaatlichung der gesamten Wirtschaft entfiel nicht nur der Wettbewerb, sondern es gab auch wenig Arbeitsanreiz. Die Entlohnung war niedrig, das Warenangebot knapp. Und für die Deckung der täglichen Grundbedürfnisse sorgte ohnehin der Staat, auch ohne dass sich der Einzelne besonders anstrengte. Auf der anderen Seite leisteten die Menschen in der Sowjetunion in vielen Bereichen auch Großartiges. Das weltberühmte Bolschoi-Ballett, der nicht weniger bekannte Moskauer Staats-Zirkus, der erste Mensch im Weltall (das war 1961 Jurij Gagarin) und die Unmengen von Medaillen, die sowjetische Sportler und Sportlerinnen bei Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften gewannen, sind dafür nur ein paar wenige Beispiele.

„GLASNOST” UND „PERESTROIKA”

Eine Wende bahnte sich erst an, als nach der kurzen Herrschaft von Jurij Andropow (1982-1984) und Konstantin Tschernenko (1984-1985) mit dem 57-jährigen Michail Gorbatschow zum ersten Mal ein jüngerer Mann an die Macht gelangte. Gorbatschow leitete ein neues Zeitalter in den Ost-West-Beziehungen ein. Er wollte den Kalten Krieg beenden, zeigte sich von Anfang an verhandlungsbereit, machte Zugeständnisse und war zur Abrüstung bereit. Und seine Politik von Glasnost („Offenheit”) und Perestroika („Umbau”) bescherte den Menschen im sowjetischen Einflussbereich nie gekannte Freiheiten.

DAS ENDE DES SOWJETISCHEN IMPERIUMS

Diese neuen Freiheiten führten letztlich zum Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft im Ostblock und zum Zerfall der Sowjetunion. Die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen, die Stalin der UdSSR einverleibt hatte, erklärten 1990 ihre Unabhängigkeit, Georgien folgte. Am 21. Dezember 1991 schlossen sich die restlichen elf der ehemals 15 sowjetischen Teilrepubliken zu einem lockeren Bund, der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), zusammen, und fünf Tage später, am 26. Dezember 1991, beschloss das sowjetische Parlament die Auflösung der Sowjetunion. Dies war das endgültige Ende der Sowjetunion. Ihre Rolle in der Weltpolitik übernahm nun Russland.

Für Kinder und Jugendliche
verfasst von:
Roland Detsch

© cpw, 2007)