Staat

 

Es ist das schon eine merkwürdige Sache. Eigentlich soll der Mensch ja frei geboren sein, heißt es immer. Doch tatsächlich ist er schon von Geburt an Zwängen unterworfen. Dass man sich der Erziehung seiner Eltern unterzuordnen hat, das leuchtet noch ein. Schließlich kann man von ihnen ja einiges lernen. Aber obwohl die Erwachsenen einem Kind ziemlich allmächtig vorkommen, scheint es doch noch irgendeine Macht zu geben, die über den Erwachsenen steht. Jedenfalls gibt es jede Menge, was sie zu tun und zu lassen haben. Und dies geben sie auch an ihre Kinder weiter.

Das beginnt bei ganz selbstverständlichen Dingen: auf Mitmenschen Rücksicht nehmen, Streitigkeiten ohne Gewalt austragen, nicht klauen oder ganz einfach: nicht bei Rot über die Ampel gehen. Aber auch vielen lästigen Pflichten kommen die Erwachsenen nach, wenn auch bisweilen zähneknirschend. So befolgen sie die Gesetze auch dann, wenn sie ihnen persönlich Nachteile bringen. Und sie zahlen brav Steuern. Denn sie wissen ganz genau: Weigern sie sich, so könnte es leicht passieren, dass plötzlich die Polizei vor der Tür steht, ihnen Strafen aufgebrummt werden oder sie sich sogar im Gefängnis wiederfinden. Kinder werden zwar in der Regel verschont. Sie verspüren den unsichtbaren Zwang am ehesten in der Schulpflicht. Aber auch sie dürfen natürlich nicht machen, was sie wollen. Denn solange ihre Sprösslinge minderjährig sind, müssen die Eltern dafür geradestehen, wenn sie sich etwas zuschulden kommen lassen.

DER STAAT SIND WIR

Welche Macht kann das sein, die selbst auf Erwachsene Zwang ausüben kann? Es ist der Staat! Und Widerstand gegen die Staatsgewalt ist absolut zwecklos, ja sogar strafbar. Denn in jeder zivilisierten Gesellschaft hat allein der Staat das Gewaltmonopol, d. h., nur der Staat darf Gewalt ausüben. Das bedeutet für jeden Staatsbürger die Pflicht zur Unterordnung, und zwar von Geburt an, ob es ihm gefällt oder nicht.

Wenn ihnen etwas nicht passt, ist es unter den Erwachsenen schon zu allen Zeiten Mode gewesen, über „den Staat” herzuziehen. Wer ist schuld daran, dass es so viele Arbeitslose gibt, dass die Wirtschaft lahmt, die Sozialleistungen gekürzt werden, die Autobahn Schlaglöcher hat? Der Staat, wer sonst! Doch wer so denkt und redet, hat nicht kapiert, dass der Staat nichts anderes ist als wir alle zusammen.

FRIEDEN UND SCHUTZ

Staat kommt vom lateinischen Wort status („Zustand”) und bezeichnet im Allgemeinen ein politisches Gemeinwesen, in dem Menschen innerhalb bestimmter Landesgrenzen unter einer souveränen (unumschränkten) Herrschaft zusammenleben. Sofern es sich um einen Rechtsstaat handelt, geht die Herrschaftsgewalt von den vereinigten Staatsbürgern aus, und sie garantiert allen Gerechtigkeit und ein Leben in Frieden und Sicherheit.

MITEINANDER STATT JEDER GEGEN JEDEN

Friede und Sicherheit – das ist der springende Punkt, wenn es darum geht, lenkende Eingriffe in die persönliche Freiheit des Menschen zu rechtfertigen. Schon früh haben sich Denker über die Rechtmäßigkeit von Staaten Gedanken gemacht. Zu den bedeutendsten Staatsphilosophen der Neuzeit gehören der Engländer Thomas Hobbes (1588-1679) und der aus Genf stammende Franzose Jean-Jacques Rousseau (1712-1778). Beide sahen im Staat die Verkörperung eines freiwilligen Gesellschaftsvertrages zwischen den Menschen zur Beendigung des „Krieges aller gegen alle”.

UNTERWERFUNG

„Der Mensch ist des Menschen Wolf”, meinte Hobbes. Er ging dabei von einem Menschen aus, der von Natur aus böse und selbstsüchtig ist und ursprünglich im steten Kampf mit den anderen rücksichtslos seine Bedürfnisse befriedigte. Es war dann nach Hobbes’ Meinung der pure Selbsterhaltungstrieb, der die Menschen dazu brachte, Staaten zu gründen. Sie erkannten nämlich, dass sie ihre Interessen im Zustand des Friedens viel besser verfolgen können. Und so schlossen sie einen Vertrag miteinander und wählten aus ihrer Mitte einen Herrscher. Sie übertrugen ihm all ihre Rechte und unterwarfen sich. Der mit absoluter Machtvollkommenheit ausgestattete Souverän sorgte im Gegenzug für Recht und Ordnung im Staat.

Hobbes und das moderne Staatsdenken
Der Beginn des modernen Staatsdenkens fällt mit dem Niedergang des 1 000-jährigen christlichen Reiches am Ende des Mittelalters zusammen. Thomas Hobbes war selbst Augenzeuge der blutigen Religionskriege zwischen Katholiken und Protestanten, die fast eineinhalb Jahrhunderte in Europa tobten. Das dürfte sein düsteres Menschenbild entscheidend mitgeprägt haben.

SELBSTBESTIMMUNG

Rousseau urteilte über den Menschen wesentlich milder. Seiner Überzeugung nach war der Urmensch ein unschuldiger und einfältiger Einzelgänger. Dies änderte sich erst, als der Mensch Gemeinschaften bildete und die Gier nach Besitz und Vorrangstellung überhand nahm. Der Gesellschaftsvertrag musste nun dazu dienen, den Verlust der natürlichen Freiheit durch politische Freiheit zu ersetzen, meinte Rousseau. Ihm ging es daher nicht um Unterwerfung unter eine allmächtige Staatsgewalt, sondern um Selbstbestimmung in Frieden und Sicherheit.

Dem Traum Rousseaus von einer Volksherrschaft durch direkte Beteiligung eines jeden Einzelnen an den politischen Entscheidungen haben wir heute wesentlich den demokratischen Staat zu verdanken. Aber der eigentliche Wegbereiter des modernen Staatsdenkens war Hobbes. Auch wenn sich die unumschränkt herrschenden Könige im Zeitalter des Absolutismus gerne auf ihn beriefen. Doch schon zu Lebzeiten von Hobbes hatte sein Landsmann John Locke (1632-1704) Ideen, die in den parlamentarischen Demokratien von heute verwirklicht sind. Locke hielt gar nichts von allmächtigen Herrschern und sprach die Hoheit im Staat, die Souveränität, allein dem Volk zu. Außerdem forderte er zur Machtkontrolle eine Gewaltenteilung zwischen gesetzgebender Volksvertretung (Legislative), ausführender Regierung (Exekutive) und Recht sprechenden Gerichten (Judikative).

VÖLKER – NATIONEN – STAATEN

Ein Staat ist nicht nur eine Sache des Verstandes, sondern auch des Herzens. Dies kommt besonders gut im Nationalbewusstsein zum Ausdruck, das von Land zu Land sehr unterschiedlich ausgeprägt ist. Als Nationen bezeichnet man Volksgemeinschaften mit starkem Zusammengehörigkeitsgefühl. Die Wurzeln dafür können in der gleichen Abstammung, Sprache, Kultur und Religion liegen, aber auch in einem gemeinsam durchlittenen Schicksal. Ideal ist es, wenn der Territorialstaat, also der durch Grenzen definierte Flächenstaat, eine ganze Nation einschließt. Wo dies der Fall ist, hat man Staatsbürger mit überdurchschnittlichem Gemeinsinn und Patriotismus (Vaterlandsliebe).

Dagegen haben Staaten, bei deren Gründung keine Rücksicht auf nationale Bande genommen wurde, nur selten lange Bestand. Ein gutes Beispiel dafür sind die so genannten Vielvölkerstaaten. So flammten etwa sofort nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Herrschaft in der Sowjetunion 1991 uralte Feindseligkeiten zwischen verschiedenen Volksgruppen wieder auf. Einige erklärten sofort ihre staatliche Unabhängigkeit, andere kämpfen noch heute um die Loslösung von Russland. Ähnlich war es in Jugoslawien, das nach zum Teil heftigen Bürgerkriegen in den neunziger Jahren in fünf einzelne Staaten zerfiel.

Ein anderes gutes Beispiel sind die Länder der Dritten Welt. Vor allem in Afrika toben seit dem Ende der Kolonialzeit ununterbrochen blutige Bürgerkriege. Nur weil die Kolonialherren Völker und Stämme zu Staaten vereinigt hatten, die zuvor überhaupt nichts miteinander zu tun hatten.

WURZEL ODER HEIL ALLEN ÜBELS?

Abschließend soll nicht verschwiegen werden, dass es auch Menschen gibt, die den Staat als die Wurzel allen Übels betrachten. Dazu gehören die Anhänger des Anarchismus („Herrschaftslosigkeit”). Sie kämpfen für das Ende der Herrschaft des Menschen über den Menschen und ein friedliches Zusammenleben in unbegrenzter Freiheit. Die Anarchisten glauben an die Vernunft und Ordnungsliebe eines von Natur aus guten Menschen, der die goldene Regel beherzigt: „ Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu!” Die wahren Ursachen für eine Gesellschaft, in der es Neid, Missgunst und Verbrechen gibt, sehen sie in den bestehenden Ungleichheiten und staatlichen Zwängen.

WILDER WESTEN

Wahrscheinlich ist Herrschaftslosigkeit nur in einer Gemeinschaft von Heiligen möglich. Welch verheerende Folgen sie in Gemeinschaften von Menschen hat, sieht man überall dort, wo die Staatsgewalt nicht funktioniert. Oder dort, wo Ordnungskräfte fehlen, die dem Recht und Gesetz Geltung verschaffen. Entweder es herrschen Mord und Totschlag oder Verhältnisse wie im Wilden Westen, wo man offenbar einen Revolver tragen musste, um Bösewichter abzuschrecken.

Was ist Anarchie?
Bezeichnenderweise spricht man von Anarchie, wenn man einen Zustand des totalen Chaos, der Unordnung, der Regellosigkeit oder der Recht- und Gesetzlosigkeit beschreiben will. Und obwohl die meisten anarchistischen Denker Gewalt als Mittel der Politik ablehnten, verbinden viele mit Anarchismus automatisch Gewaltbereitschaft. Möglicherweise hängt dies damit zusammen, dass anarchistische Wirrköpfe für zahlreiche Aufsehen erregende Mordanschläge verantwortlich waren. Bekannteste Opfer: Zar Alexander II., Kaiserin „Sisi” und US-Präsident William McKinley.

Für Kinder und Jugendliche
verfasst von:
Roland Detsch

(© cpw, 2007)