Willy Brandt

 

Als „Friedenskanzler” hat Willy Brandt eines der wichtigsten Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte geschrieben. Sein ganzes Bestreben galt der Aussöhnung und Verständigung mit der Sowjetunion und den östlichen Nachbarn Deutschlands, allen voran Polen und der Tschechoslowakei. Zu diesem Zweck war er bereit, die Ergebnisse der staatlichen und politischen Neuordnung Mitteleuropas nach dem 2. Weltkrieg (1939-1945) anzuerkennen – ungeachtet der Widerstände der Opposition, die auf die verlorenen deutschen Gebiete nicht verzichten wollte. Die geschickte „Ostpolitik” von Willy Brandt trug zu einer Entspannung im Kalten Krieg in Europa bei. Und sie war die Grundvoraussetzung für eine „Deutschlandpolitik”: Nach über zwei Jahrzehnten deutscher Teilung kam es unter Brandt erstmals zu direkten Kontakten zwischen den Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Ein geregeltes Miteinander brachte nicht nur wesentliche Erleichterungen für die Menschen auf beiden Seiten. Es sorgte auch dafür, dass das Bewusstsein für die Einheit der Nation und letztlich die Hoffnung auf staatliche Wiedervereinigung wach blieb.

HERKUNFT

Geboren wurde Willy Brandt am 18. Dezember 1913 in Lübeck als uneheliches Kind der Verkäuferin Martha Frahm, die ihm den Vornamen Herbert gab. Er wurde im Hause seines Großvaters Ludwig Frahm groß. Der war von Beruf Lastwagenfahrer und zog ihn auf wie einen eigenen Sohn. Dass sein leiblicher Vater ein Hamburger Buchhalter namens John Möller war, erfuhr Herbert erst Jahrzehnte später. Er wuchs im Lübecker Arbeitermilieu auf, besuchte die Realschule und anschließend ein Realgymnasium und machte 1932 das Abitur.

JAHRE DES WIDERSTANDES

Schon früh ging er in die sozialistische Jugendbewegung und schrieb bereits als Fünfzehnjähriger Artikel für die sozialdemokratische Zeitung Lübecker Volksbote. 1930 trat er der SPD bei, wechselte aber im Jahr darauf zu der weiter links stehenden Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP). Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 schloss er sich der sozialistischen Widerstandsbewegung gegen Adolf Hitler an. Im Alter von 19 Jahren verließ er im April 1933 seine Familie und Deutschland. Im Auftrag der SAP baute Herbert Frahm unter dem Decknamen Willy Brandt in der norwegischen Hauptstadt Oslo einen Stützpunkt für die Untergrundarbeit des sozialistischen Widerstands auf. Auf der Flucht vor der deutschen Wehrmacht setzte er sich 1941 nach Stockholm (Schweden) ab. Dort trat er wieder der SPD bei und leitete ab 1942 ein schwedisch-norwegisches Pressebüro.

RÜCKKEHR IN DIE DEUTSCHE POLITIK

Nach der Befreiung Deutschlands 1945 reiste Brandt als Berichterstatter für eine Arbeiterzeitung zum Hauptkriegsverbrecherprozess nach Nürnberg. Ab 1947 arbeitete er im Auftrag der Regierung Norwegens als Presseattaché der norwegischen Vertretung beim Alliierten Kontrollrat in Berlin. Als ihm der Posten des „Beauftragten des SPD-Parteivorstandes in Berlin und bei den alliierten Kontrollbehörden” angeboten wurde, nahm er an und kehrte damit am 1. Januar 1948 in die deutsche Politik zurück.

BERLINER JAHRE

In den Zeiten, in denen das geteilte Berlin immer mehr zum Spielball im Kalten Krieg zwischen der Sowjetunion und den USA wurde, erhielt Brandts politische Laufbahn die entscheidende Prägung und Ausrichtung. Er war ein enger Vertrauter des Westberliner Oberbürgermeisters Ernst Reuter und gehörte ab 1949 zu den Berliner Vertretern im ersten Deutschen Bundestag. Am 3. Oktober 1957 wurde er zum Regierenden Bürgermeister von Westberlin gewählt. Als unermüdlicher Streiter für die Freiheit Westberlins wurde Brandt zur Symbolfigur des Widerstandes gegen die sowjetische Machtpolitik.

Der „Vaterlandsverräter”
Schon bevor er sein erstes Amt in Deutschland annahm, wurde Brandt von politischen Gegnern als „Vaterlandsverräter” hingestellt - eine Verleumdung, die ihn sein Leben lang begleiten sollte. Als Beweis für den angeblichen „Vaterlandsverrat” musste u. a. seine norwegische Staatsbürgerschaft herhalten. Die hatte er im Exil angenommen, nachdem ihn die Nationalsozialisten 1938 für staatenlos erklärt hatten. Erst am 1. Juli 1948 wurde Brandt wieder deutscher Staatsbürger.

„POLITIK DER KLEINEN SCHRITTE”

Brandt war schockiert und enttäuscht, dass sein großes Vorbild, US-Präsident John F. Kennedy, nichts gegen den Bau der Berliner Mauer unternahm, den die DDR-Führung am 13. August 1961 angeordnet hatte. Ihm wurde klar: Allein auf die Hilfe des „großen Bruders” USA zu bauen würde auf die Dauer nicht ausreichen. So begann er bereits in seiner Zeit als Berliner Bürgermeister, im kleinen Stil „Deutschlandpolitik” zu betreiben, um die Teilung der Stadt für die Bürger erträglicher zu machen. Brandts „Politik der kleinen Schritte” trug im Dezember 1963 erste Früchte: Er erreichte den Abschluss eines Passierscheinabkommens, das Westberlinern und später auch Bundesbürgern zeitlich begrenzte Besuche in Ostberlin erlaubte.

WECHSEL IN DIE BUNDESPOLITIK

Mit seiner Ernennung zum Kanzlerkandidaten der SPD 1960 begann die bundespolitische Karriere Willy Brandts. Er konnte zwar das beste Wahlergebnis in der Geschichte der Partei einfahren, doch für eine Ablösung der Regierungskoalition von CDU/CSU und FDP unter Bundeskanzler Konrad Adenauer reichte es nicht. Zur Regierungsverantwortung gelangte die SPD erst Ende 1966 als Juniorpartner in der „Großen Koalition” mit der CDU/CSU. Brandt wurde Außenminister und Stellvertreter von Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger.

Nach dem Tod von Erich Ollenhauer wurde Willy Brandt 1964 von der SPD zum Parteivorsitzenden gewählt. Er bekleidete dieses Amt bis zu seinem freiwilligen Ausscheiden im Jahre 1987.

KANZLERSCHAFT

Am 21. Oktober 1969 gelang Willy Brand – nach zwei vergeblichen Anläufen – der Sprung ins Kanzleramt, gestützt auf eine Koalition aus seiner SPD und der FDP. Als Bundeskanzler konnte er nun seine Vorstellungen zur Ost- und Deutschlandpolitik verwirklichen. Er schloss die so genannten Ostverträge: Verträge mit Polen, der Tschechoslowakei und der Sowjetunion, in denen jeweils beide Seiten gegenseitig die bestehenden Grenzen anerkannten und sich auf einen Gewaltverzicht verpflichteten. Und in dem Grundvertrag mit der DDR erkannte er diese als selbständigen Staat an. Diese auf Entspannung, Ausgleich und Frieden ausgerichtete Ostpolitik brachte Willi Brandt 1971 sogar den Friedensnobelpreis ein.

Die Opposition in Deutschland dagegen bekämpfte Brandts Ost- und Deutschlandpolitik und warf ihm den Ausverkauf deutscher Interessen vor – verzichtete er doch in den Ostverträgen endgültig auf Gebiete, die bis zum Ende des 2. Weltkrieges 1945 zu Deutschland gehört hatten. Auch schien er durch die Anerkennung der DDR als eigenständigen Staat die deutsche Teilung festzuschreiben. Die CDU/CSU-Opposition unter der Führung von Rainer Barzel unternahm 1972 sogar den Versuch, ihn zu stürzen. Sie verfehlte jedoch bei der geheimen Abstimmung die erforderliche Mehrheit, und Brandt blieb im Amt.

Willy Brandt leitete in seiner Regierungszeit auch einen tief greifenden Wandel der Gesellschaft ein. Er brachte die Bürgerinnen und Bürger dazu, aktiver am Aufbau einer demokratischen Gesellschaft mitzuwirken. Eine eindrucksvolle Bestätigung seines innen- und ostpolitischen Kurses durch die Bevölkerung erfuhr Brandt bei den vorgezogenen Bundestagswahlen im November 1972: Mit 45,8 Prozent der Wählerstimmen erreichte die SPD das beste Ergebnis in ihrer 100-jährigen Geschichte.

Als einer seiner persönlichen Mitarbeiter als DDR-Spion enttarnt wurde, trat Brandt zum Bedauern vieler am 6. Mai 1974 vorzeitig als Bundeskanzler zurück.

 

Die Ostverträge
Die Ostverträge, die Willy Brandt als Bundeskanzler der Bundesrepublik schloss, waren (in Klammern das Datum der Unterzeichnung):
der Moskauer Vertrag zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion (12. August 1970),
der Warschauer Vertrag zwischen der Bundesrepublik und Polen (7. Dezember 1970),
der Grundvertrag zwischen der Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen Republik (21. Dezember 1972) und
der Prager Vertrag zwischen der Bundesrepublik und der Tschechoslowakei (11. Dezember 1973).
 

FRIEDENSPOLITIKER

Als Parteivorsitzender der SPD übte Brandt auch in den folgenden Jahrzehnten großen Einfluss auf Politik und Gesellschaft in der Bundespolitik Deutschland aus. Durch seine außenpolitischen Erfolge weltweit geachtet und geschätzt, stellte er sich außerdem auch immer wieder bereitwillig in den Dienst der internationalen Friedenspolitik. So leitete er z. B. die so genannte Brandt-Kommission (eigentlich: Nord-Süd-Kommission) zur Förderung des Dialogs und der Zusammenarbeit zwischen den reichen Ländern im Norden und den armen im Süden. In den siebziger Jahren beriet er Spanien und Portugal auf ihrem Weg aus der Diktatur in die Demokratie. Und von 1976 bis kurz vor seinem Tod 1992 war er Präsident der Sozialistischen Internationale (SI) und prägte sie in dieser Zeit nachhaltig.

Im Alter von 76 Jahren war es Brandt noch vergönnt, die deutsche Wiedervereinigung mitzuerleben. Im Prozess der Wiedervereinigung gelang es ihm, den DDR-Bürgern das Gefühl zu vermitteln, dass es nicht um einen „Anschluss” an die Bundesrepublik ging, sondern um Gleichberechtigung in einem gemeinsamen Deutschland. Berühmt wurde sein Ausspruch „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört”. Am 8. Oktober 1992 starb Willy Brandt in seinem Haus in Unkel bei Bonn an einem Krebsleiden.

Für Kinder und Jugendliche
verfasst von:
Roland Detsch

(© cpw, 2007)