Achtundsechziger

Bezeichnung für die Träger der deutschen Variante der internationalen revolutionären Jugendbewegung Ende der Sechzigerjahre des 20. Jahrhunderts, die gegen die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Werte in den westlichen Gesellschaften der Nachkriegszeit aufbegehrte.

Die in der Rückschau so genannten Achtundsechziger sind benannt nach dem Jahr 1968, das besonders in Deutschland als Jahr des gesellschaftlichen Umbruchs in die Geschichte eingegangen ist. Es markierte eine Zäsur im Verhältnis der Generationen und leitete einen tiefgreifenden und anhaltenden Wertewandel ein.

Die Hauptprotagonisten der Achtundsechziger-Bewegung stammten mehrheitlich aus der ökonomisch saturierten, nivellierten Mittelschicht der Bundesrepublik Deutschland und verfügten über höhere Schulbildung. Aufgewachsen in der Ära Adenauer und Erhard, erlebten sie die selbstzufriedene Gesellschaft des Wiederaufbaus und Wirtschaftswunders in den frühen Sechzigerjahren als spießig, wohlstandsfixiert, leistungsorientiert und wenig reformfreudig (CDU-Wahlslogan: „Keine Experimente!“). Die jungen Leute vermissten zudem eine offene Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und eine kritische Haltung gegenüber den USA, deren Image vom Befreier von Unterdrückung sich nicht erst seit dem als zunehmend schmutzig empfundenen Vietnamkrieg ins Gegenteil verkehrt hatte. Das von der westlichen Führungsmacht verbreitete Pathos von der Notwendigkeit der Verteidigung der Freiheit wurde durch die Nachrichten und Fernsehbilder tagtäglich Lügen gestraft. Blutig niedergeschlagene Demonstrationen der amerikanischen Friedens- und Bürgerrechtsbewegung, Rassismus und Gewalt, die 1968 in politischen Morden an dem schwarzen Bürgerrechtler Martin Luther King und dem demokratischen Präsidentschaftskandidaten Robert Kennedy gipfelten, bestärkten die Zweifel an der moralischen Überlegenheit des Westens. Wer jedoch geglaubt hatte, der Staatssozialismus im Osten böte eine Alternative und ließe sich demokratisieren, wurde spätestens durch die brutale Intervention der Sowjetmacht zur Beendigung des „Prager Frühlings“ 1968 eines Besseren belehrt.

Erfahrungen wie diese verstärkten den Drang der Jugend, neue, gewaltlose Modelle des Zusammenlebens zu erproben. Neue Idole suchte und fand man insbesondere in den antiimperialistischen Befreiungsbewegungen der Dritten Welt und in den – möglichst undogmatischen – Verfechtern radikaldemokratischer und linker Ideale. Romantisiert vom Lebensgefühl der Hippie-Bewegung, inspiriert vom Neomarxismus und politisiert durch die selbst auferlegte Rolle einer Außerparlamentarischen Opposition (APO) zur regierenden Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD in Bonn, ging man auf allen Ebenen auf Konfrontationskurs zum „Establishment“. Zum Transmissionsriemen des Protestes wurde der Kampf gegen die geplante Notstandsgesetzgebung, die in Übereinstimmung mit den Gewerkschaften (aufgrund der Einschränkung des Versammlungs- und Streikrechts) als Anschlag auf die demokratischen Grundrechte gewertet wurde, sowie die Revolte der akademischen Jugend gegen das als autoritär und verknöchert empfundene Bildungssystem. Erfasst wurden dabei auch diejenigen, denen es weniger um politischen Aktionismus als um die Überwindung der „objektivierten Zwänge“ und „autoritären Leistungsimperative“ des Kapitalismus ging und die sich nach Selbstverwirklichung und alternativen Lebensformen sehnten. Nicht nur Antifaschismus, Antiimperialismus und Antikapitalismus sondern auch Liebe, Mitmenschlichkeit, Gerechtigkeit, Gleichheit und Solidarität wurden zu den wesentlichen Leitmotiven der Bewegung.

Geistige Grundlagen

Die Motivation der Achtundsechziger kam in den Parolen von der der „Großen Weigerung“ und der „Neuen Unmittelbarkeit“ zum Ausdruck. Sie waren Antworten auf die Erfahrung der Vergeblichkeit politischer Opposition gegen das als repressiv empfundene Establishment. Ihm sollte mit einem allgemeinen Engagement für die Verwirklichung der Idee einer basisdemokratisch organisierten, antiautoritären Gesellschaft begegnet werden, die irdisches und insbesondere auch sinnliches Glück verhieß. Wie in anderen Teilen der westlichen Welt avancierte auch in Deutschland der in den USA lehrende Emigrant Herbert Marcuse zum geistigen Vater der Jugendrevolte. In seinen Büchern Triebstruktur und Gesellschaft (1956), Der eindimensionale Mensch (1964), in den Essays Über den affirmativen Charakter der Kultur (1937 und 1965) und Repressive Toleranz (1966) hatte der als „freudianischer Heidegger-Marxist“ gefeierte Sozialphilosoph ein Reich der Freiheit beschworen, in dem eine „libidinöse Moral“ der Bedürfnisbefriedigung ohne herrschaftsbedingte Triebverdrängung waltet.

Für das intellektuelle Rüstzeug und Begriffsarsenal zur Kritik der bürgerlichen Gesellschaft sorgte neben Karl Marx und seinen modernen Epigonen vor allem die so genannte „Frankfurter Schule“ um die beiden Soziologen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Mit den Mitteln der „Kritischen Theorie“, wie sie ihren Denkansatz nannten, versuchten sie, den Widerspruch zwischen den optimistischen Zielen der Aufklärung und dem realen Elend der Welt aufzuklären sowie die gesellschaftlichen Herrschaftsbedingungen auf die in ihnen wirkende „instrumentelle Vernunft“ hin zu analysieren. In ihrer Kritik der Massengesellschaft und der Machtstrukturen des Spätkapitalismus erscheint der Mensch als bloßes Objekt einer technisch und bürokratisch verwalteten Welt, in der er seine Individualität verliert.

Der Politisierung der bundesdeutschen Intelligenz leistete darüber hinaus eine Reihe von Autoren Vorschub. Ein herausragendes Beispiel ist Peter Weiss, der mit Werken wie Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade (1964), Die Ermittlung (1965) sowie dem Diskurs über die Vorgeschichte und den Verlauf des langandauernden Befreiungskampfes in Viet Nam als Beispiel für die Notwendigkeit des bewaffneten Kampfes der Unterdrückten gegen die Unterdrücker sowie über die Versuche der Vereinigten Staaten von Amerika, die Grundlagen der Revolution zu vernichten (kurz: Viet Nam Diskurs, 1968) für Aufmerksamkeit sorgte.

Das Jahr 1967

Die intolerante und unversöhnliche Haltung verunsicherter konservativer Kreise trug zu einer Eskalation der Auseinandersetzung bei, die sich bereits 1967 zunehmend aus den Hörsälen auf die Straße verlagert hatte. Einen Radikalisierungsschub brachte die Kurzschlusshandlung eines zum typischen Repräsentanten des „Systems“ hochstilisierten Polizisten, der bei einer Demonstration gegen den Staatsbesuch des persischen Gewaltherrschers Schah Reza Pahlewi in Berlin am 2. Juni 1967 den Studenten Benno Ohnesorg erschoss. In Hannover, wo der zum Märtyrer der Revolution erklärte Ohnesorg zu Grabe getragen wurde, fand eine Woche später ein „Widerstandskongress“ statt, der den explosiven Charakter der Entwicklung erahnen ließ. Der Philosoph Jürgen Habermas bedauerte in seiner zentralen Rede, dass an die Stelle des demokratischen Diskurses Gewalt und Gegengewalt getreten waren. Er zeigte sich besorgt über Tendenzen zur Rechtfertigung von „Gewalt gegen Sachen“, da diese leicht in „Gewalt gegen Menschen“ ausarten könnte. Habermas, der wie viele andere Intellektuelle mit den Zielen der Bewegung zunächst sympathisierte, warnte in diesem Zusammenhang auch vor einem „linken Faschismus“, was ihn schließlich selbst zur Zielscheibe militanter Gruppen machen sollte.

Das Jahr 1968

Nachdem Holger Meins – Jahre später ein führender Kopf in der Rote Armee Fraktion (RAF) – bereits am 1. Februar 1968 auf einer Vorbereitungsveranstaltung für das „Springer-Hearing“ einen selbst gedrehten Lehrfilm über den Bau von Molotow-Cocktails gezeigt hatte, zündeten Andreas Baader und Gudrun Ensslin zusammen mit Horst Söhnlein und Thorwald Proll am 3. April 1968 in zwei Frankfurter Kaufhäusern Brandsätze. Inspiriert wurde die Tat, mit der angeblich an die Leiden der vietnamesischen Zivilbevölkerung unter dem amerikanischen Napalmbombenterror gemahnt werden sollte, von einem Kaufhausbrand in Brüssel, bei dem im Jahr zuvor über 300 Menschen ums Leben gekommen waren. Sie gilt als Auftakt des deutschen Linksterrorismus, in den eine Minderheit der Protestbewegung immer mehr abglitt.

Das Attentat eines aufgehetzten Rechtsextremisten auf den Studentenführer Rudi Dutschke am 11. April 1968 löste landesweit schwere Unruhen aus und gipfelte an Ostern in der Blockade des Springer-Hochauses. Überschattet von wochenlangen Massenprotesten verabschiedete der Deutsche Bundestag am 30. Mai 1968 die Notstandsgesetze. Dieses Ereignis markierte zugleich den Anfang vom Ende der APO. Denn anders als in Frankreich, wo die durch Studentenproteste ausgelösten Mai-Unruhen in Paris zu einem wochenlangen Generalstreik führten, der das ganze Land lahmlegte, verhallte ein entsprechender Aufruf in Deutschland nahezu ungehört. Diese Offenbarung der politischen Isolation in der Gesellschaft führte zu einer relativ raschen Selbstauflösung der Studentenbewegung. Beschleunigt wurde ihr Niedergang schließlich noch durch die Bildung der sozial-liberalen Koalition (Oktober 1969) und der Regierung Willy Brandt, der „mehr Demokratie wagen“ wollte und eine umfassende Reformpolitik ankündigte.

Nachwirkungen

Trotz der relativ bescheidenen Erfolgsbilanz in den Jahren der Revolte sind die Achtundsechziger zum Mythos geworden. Sie begründeten im traditionell disziplinierten und autoritätshörigen Deutschland eine neue Kultur aus Nonkonformismus, Provokation, und Widerstandsgeist. Diese trug in den folgenden Jahren und Jahrzehnten zu einer politischen Belebung und Polarisierung der Gesellschaft bei und leitete grundstürzende Veränderungen des etablierten Wertekanons ein.

Während einige wenige Aktivisten in den Untergrund gingen, um das „System“ mit Waffengewalt zu bekämpfen, bereitete sich unterdessen ein Großteil der politisierten Studentenschaft auf den „langen Marsch durch die Institutionen“ (Rudi Dutschke) in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik vor, um es von innen zu reformieren. Eine der wichtigsten Erkenntnisse der Studentenrevolte war die Erfahrung, dass es möglich war, auch außerparlamentarisch mit Erfolg gegen bestehende Machtstrukturen und gesellschaftspolitische Missstände vorzugehen. Der antiautoritäre Geist der Achtundsechziger mit seiner Experimentier- und Diskutierfreudigkeit lebte nach dem Zerfall der APO im bunten Spektrum der „Neuen Linken“, in den „Neuen Sozialen Bewegungen“ und in der „Alternativbewegung“ der Siebziger- und Achtzigerjahre fort. Dieses Sammelsurium aus undogmatischen Radikaldemokraten, Anarchisten und orthodoxen Marxisten stellten die fundamentalen Grundwerte und Institutionen in Staat und Gesellschaft in Frage und übte einen beachtlichen Reformdruck aus. Auf breiter Front formierten sich Bürgerinitiativen, Randgruppenvereinigungen und Nichtregierungsorganisationen (NGO), die teilweise bis in die Gegenwart die sozialen, politischen und ökologischen Interessen ihrer Mitglieder gegenüber dem Staat oder anderen Organisationen wahrnehmen.

Deutliche Spuren haben die Achtundsechziger auch in der Kultur hinterlassen, die eine enorme Politisierung erfuhr. Dort kam es zu einem regelrechten Aufstand gegen den bildungsbürgerlichen Kunstbetrieb und Kulturkonsum. Zu den Blüten dieser avantgardistischen Kulturrevolution zur Zerschlagung der „affirmativen Ästhetik“ gehören neben dem Neodadaismus neue Genres der Aktionskunst wie Happening oder Performance (siehe auch: Fluxus-Bewegung). Im Bereich der darstellenden Kunst entstanden im Zuge der Studentenbewegung als Gegenentwurf zum herrschenden kommerziellen Theater zahlreiche „Freie Theater“ (Mitbestimmung, Kollektivregie etc.), die die bisher gültigen Konventionen sprengten und die Trennung zwischen Zuschauerraum und Bühne aufhoben („Theater der Erfahrung“). Die Bühnen wurden zu Schauplätzen der Gesellschaftskritik, die auch die Literatur und den Film beherrschte.

Durch Agents provocateurs der DDR nach Kräften geschürt, um die Bundesrepublik zu destabilisieren, sollte sich der westdeutsche Studentenprotest für das SED-Regime als Bumerang erweisen. Vor allem die jüngere Generation jenseits der deutsch-deutschen Grenze wurde vom Virus des Konventionsbruchs und der Verweigerung infiziert. Aber selbst die vergleichsweise harmlosen Ausdrucksformen wie die Übernahme von Lebensstil und Mode der Hippies oder die Begeisterung für Popmusik genügten, um die Staatsmacht herauszufordern. Die repressive Gangart, die das DDR-Regime zur Unterdrückung solch „westlerischer“ Erscheinungen in der Jugendkultur einschlug, trug letztlich dazu bei, dass sich die grassierende Staatsverdrossenheit ab Mitte der Siebzigerjahre zunehmend in offener Dissidenz und Opposition Luft machte.

Verfasst von:
Roland Detsch

(© cpw)