Algerien

(Geschichte)

Höhlenmalereien in der Ahaggarregion belegen, dass das Gebiet des heutigen Algerien bereits im 8. Jahrtausend v. Chr. besiedelt war. Seit Alters her vor allem von Berbern bevölkert, einem hellhäutigen nomadisierenden Hirtenvolk, das wahrscheinlich schon vor 4000 Jahren aus dem westlichen Asien nach Nordafrika eingewandert war, wurde die Region, die in der Antike teils zu Numidien und teils zu Mauretanien gehörte, nicht zuletzt wegen ihrer strategisch günstigen Lage an der nordafrikanischen Mittelmeerküste nacheinander von Phöniziern, Römern, Vandalen, Byzantinern, Arabern, Osmanen und Franzosen beherrscht. Für das Verständnis der neueren Geschichte sowie der aktuellen Lage in Algerien besonders relevant sind die Invasionen der Araber, die die Berber im 7. Jahrhundert zwangsislamisierten, und der Franzosen, die das Land Mitte des 19. Jahrhunderts kolonisierten.

Islamisierung und Osmanische Herrschaft

Nach anfänglichem Widerstand unterwarfen sich die Berber den arabischen Eroberern und wurden in das Kalifat der Omaijaden integriert. Sein Zerfall ermöglichte es den überwiegend schiitischen Berbern im 8. Jahrhundert, eigene Königreiche zu errichten und so mächtige Dynastien wie die Almoraviden und die Almohaden hervorzubringen, die zeitweise den gesamten Westen Nordafrikas und den Süden Spaniens beherrschten. Im heutigen Algerien liegende Hafenstädte wie Bejaja und Annaba erlebten eine Blütezeit und unterhielten lebhafte Handelsbeziehungen mit allen Teilen Europas. Die um 950 gegründete Stadt Algier, die lange Zeit relativ bedeutungslos war, kam ab dem 13. Jahrhundert als Stützpunkt der Korsaren zu zweifelhaftem Ruhm und Größe. Sie wurde nach der Vertreibung der Spanier, die sich zur Bekämpfung der Piraterie an der nordafrikanischen Küste festgesetzt hatten, zur regionalen Hauptstadt des Osmanischen Reiches, unter dessen Oberhoheit die Region seit 1519 stand. Für die Sicherheit des osmanischen Statthalters der autonomen Provinz Algier sorgten Janitscharen, die im 17. Jahrhundert immer eigenmächtiger wurden und zusammen mit den Korsaren eigene Herrscher einsetzten, die den Titel „Dey von Algier“ trugen. Ihre Macht brachen erst 1830 die Franzosen, als sie nach mehreren erfolglosen Versuchen der Engländer, Spanier und Niederländer sowie einem halben Dutzend eigener Anläufe die Stadt einnahmen.

Französische Kolonisierung

Algier diente den Franzosen in der Folgezeit als wichtigster Stützpunkt bei der Eroberung des Hinterlandes, wo sie auf heftigen Widerstand der Berberstämme unter der Führung von Abd el-Kader stießen, der erst Ende 1846 unterworfen werden konnte und bis heute als Nationalheld gefeiert wird. Frankreich annektierte Algerien 1848 formell, sorgte für eine moderne Infrastruktur, monopolisierte die landwirtschaftliche Nutzflächen und ließ sie auf die Bedürfnisse des französischen Mutterlandes zugeschnitten von Hunderttausenden europäischen Siedlern (Colons) bewirtschaften.

Die muslimische Bevölkerungsmehrheit hatte nur wenig Anteil an der Prosperität Algeriens und war vielfältigen Restriktionen ausgesetzt. Einheimische kamen zwar in den Genuss der französischen Staatsbürgerschaft, hätten jedoch ihrem Glauben abschwören müssen, um alle damit verbundenen Rechte in Anspruch nehmen zu können. Selbst den assimilierten Eliten, die französische Schulen besuchten und die französische Kultur übernahmen, blieb eine Teilhabe an Politik und Verwaltung verwehrt. Durch ein Zweiklassenwahlrecht sicherte die Kolonialmacht die Vorherrschaft und Privilegien der Algerien-Europäer.

Nationalismus und Widerstand

Immer wenn Frankreich in einen Krieg verwickelt war – also 1871, 1914 und 1940 –, versuchten die Einheimischen die Gunst der Stunde zu nutzen, um Reformen des Kolonialsystems durchzusetzen. Die hartnäckige Zugeständnislosigkeit der Colons ließ in der indigenen Bevölkerung ein zunehmendes Nationalbewusstsein aufkeimen, das sich schließlich in der Gründung oppositioneller Gruppierungen wie der Jeunes Algériens oder der Fédération des Élus Ausdruck verlieh. Hoffnungen schöpften die Algerier, als sich die USA aktiv in den Zweiten Weltkrieg in Europa einschalteten. Ermutigt durch den antikolonialistischen Grundtenor der Atlantikcharta und entsprechenden Äußerungen der französischen Exilregierung unter General Charles de Gaulle sowie in der Erwartung des baldigen Endes des mit Deutschland kollaborierenden Vichy-Regimes in Frankreich versuchten die Nationalisten, ihre Differenzen zu begraben, um an einem Strang zu ziehen. Am 14. März 1944 schlossen sie sich zu einer Allianz mit dem Namen Amis du Manifeste et de Liberté (AML) zusammen, benannt nach dem Manifeste du Peuple Algerien, mit dem sie am 10. Februar 1943 ihren Forderungen Nachdruck verleihen wollten. Mit von der Partie war der gemäßigte Nationalist Ferhat Abbas, in den Zwanzigerjahren einer der ersten Wortführer der Unabhängigkeitsbewegung. Hatte er 1936 die Idee eines souveränen Algerien für völlig utopisch gehalten, trat er nun vehement für eine Autonomie als assoziierter Staat in einer Föderation mit einer erneuerten, antikolonialistischen und antiimperialistischen französischen Republik ein, was zum programmatischen Credo seiner 1946 gegründeten Union Démocratique du Manifeste Algérien (UDMA) werden sollte.

Wesentlich radikaler gab sich das AML-Mitglied Ahmed Messali vom Parti du Peuple Algérien (PPA), der aus der kommunistischen Étoile Nord-Africaine (ENA) erwachsen war, die das verelendete algerische Proletariat in den Industriestädten vertrat. Mit Maximalforderungen wie nach einem von Frankreich losgelösten Staat in einer Union mit anderen Maghreb-Ländern stieg Messali zeitweise zum Kopf des algerischen Widerstandes auf. Sein PPA entwickelte sich in den Fünfzigerjahren als Mouvement pour le Triomphe des Libertés Démocratiques (MTLD) zu einer Massenbewegung. Als sich die Kolonisten mit Milizen wappneten, bildete das MTLD eine paramilitärische Organisation Speciale (OS) aus, in der sich zum bewaffneten Kampf entschlossene junge algerische Ex-Offiziere, die in der französischen Armee gedient hatten, sammelten, darunter Ahmed Ben Bella, Mohammed Boudiaf und Rabah Bitat.

1950 wurde die OS von der Polizei zerschlagen, und 1954 zerfiel auch das MTLD. Während Ben Bella, der 1952 aus dem Gefängnis ins ägyptische Exil geflohen war, als Mitglied eines aus Emigranten bestehenden Comité Révolutionnaire pour l’Unité et l’Action (CRUA) die Front de Liberation National (FLN) gründete und eine Armée de Liberation National (ALN) aufstellte, organisierte sein Rivale Messali den Unabhängigkeitskampf in einem Mouvement National Algérien (MNA).

Befreiungskrieg 1954 – 1962

Als Initialzündung für den algerischen Befreiungskampf (siehe Algerienkrieg) gilt ein blutiger Aufstand gegen die Kolonialherrschaft am 8. Mai 1954 in Sétif, der von den französischen Sicherheitskräften unbarmherzig niedergeschlagen wurde und kollektive Vergeltungsaktionen nach sich zog, die zehntausenden Algeriern das Leben kostete. Er führte auch zum Verbot der AML. Den Auftakt der Kampfhandlungen bildete eine Serie von Bombenanschlägen in 30 algerischen Städte in der Nacht zum 1. November 1954 . Ein halbes Jahr nach ihrem unrühmlichen Rückzug aus Indochina (siehe Indochinakrieg) begann damit für die Franzosen ein weiterer Krieg - der blutigste Krieg Nordafrikas -, der nach mehr als sieben Jahren zum Verlust ihrer letzten Kolonie führen und am Ende – je nach Schätzung – 300 000 bis 1,5 Millionen Menschen das Leben gekostet haben sollte.

Den Punkt, an dem es kein Zurück mehr zu einer Verhandlungslösung gab, markierte der 20. August 1955, an dem Siedlermilizen aus Rache für die Tötung von 71 Europäern und 62 Algeriern durch ALN-Kämpfer in Philippeville 1000 Algerier ermordete und damit eine beispiellose Spirale der Gewalt in Gang setzten. Als die Stimmung in Frankreich kippte, löste die Wahl des verhandlungsbereiten Pierre Pflimlin zum Ministerpräsidenten im Mai 1958 eine Staatskrise aus, die zum Ende der IV. Republik führte. Treibende Kraft war der aus dem Ruhestand reaktivierte General Charles de Gaulle, der die Rolle des Retters der Nation gerne annahm, aber zur Überraschung der Algerienfranzosen und vor allem der Militärs, die ihn faktisch an die Macht gebracht hatten, nach einigen Monaten des Taktierens am 16. September 1959 die Selbstbestimmung der Algerier anerkannte. Bei einem Referendum ein Jahr später votierten über drei Viertel der Franzosen für die Unabhängigkeit Algeriens und machten damit den Weg frei für Verhandlungen mit der von der FLN gebildeten provisorischen algerischen Exilregierung.

Am 22. April 1961 versuchten Generäle in Algier sich der Entwicklung durch einen Putsch entgegenzustemmen. Ihr Widerstand brach jedoch zusammen, als am 26. April 1961 zwölf Millionen Franzosen mit einem Generalstreik der Verschwörung eine Absage erteilten. Ein Teil der Ultras um die Putschgeneräle Maurice Challe, Eduardo Jouhaud, André Zeller und Raoul Salan ging daraufhin in den Untergrund und formiert die Organisation de l´Armée Secrète (OAS), die Algerien und Frankreich monatelang mit Bombenterror überzog.

Unabhängigkeit und Staatsbildung

Die Verhandlungen mit der algerischen Exilregierung mündeten am 18. März 1962 in den Vertrag von Evian und am 5. Juli 1962 in der Unabhängigkeit Algeriens. Durch den fluchtartigen Abzug der rund eine Million in Algerien ansässigen Europäer verlor das kriegszerstörte Land fast seine gesamten wirtschaftliche Elite.

Im libyschen Tripolis verabschiedete die FLN-Führung eine Verfassung, die Algerien zu einem sozialistischen Einparteienstaat machte mit Ben Bella als autokratischem Führer an der Spitze (ab 1963 Staatspräsident). Ideologische Differenzen und Meinungsverschiedenheiten über den politischen Kurs des Landes führten 1965 bereits zum Sturz Ben Bellas durch einen blutigen Staatsstreich seines langjährigen Mitstreiters Houari Boumedienne. Der ehemalige Verteidigungsminister und Oberbefehlshaber der Armee übernahm als Vorsitzender eines Revolutionsrates das Amt des Staats- und Regierungschefs (ab 1977 Staatspräsident), paktierte in der Zeit des Kalten Krieges mit der Sowjetunion und versuchte wie sein Vorgänger, die einflussreichen fundamentalistischen muslimischen Geistlichen der seit 1931 bestehenden Association des Oulemas Musulmans Algeriéns (AOMA), die am Unabhängigkeitskampf beteiligt war, im Staat einzubinden. Damit sie sich nicht zu kurz gekommen fühlten, erhielten sie führende Posten im Erziehungswesen, in den Medien und sogar in der Armee.

Eine 1976 per Referendum zur Verfassung erhobene Nationalcharta schrieb zwar die führende Rolle der FLN fest und legte Algerien auf den Sozialismus fest, erhob aber gleichzeitig den Islam zur Staatsreligion. In seiner dreizehnjährigen Amtszeit erwarb sich Boumedienne nicht zuletzt durch die wirtschaftlichen Erfolge des algerischen Sozialismus, die sich freilich im Wesentlichen auf Erdölexporte gründeten, großes Ansehen im arabischen Raum und in der gesamten Dritten Welt.

Staatskrise und islamischer Extremismus

Nach Boumediennes Tod wurde Oberst Bendjedid Chadli 1978 zu seinem Nachfolger gewählt. Bereits Anfang der Achtzigerjahre zeichneten sich ethnische Konflikte mit verschiedenen Berberstämmen ab, die gegen die zunehmende Arabisierung opponierten und kulturelle Eigenständigkeit verlangten. Gleichzeitig kam es zu ersten gewaltsamen Ausschreitungen extremistischer Muslime, die einen stärkeren Einfluss des Islam auf die algerische Gesellschaft forderten. Im Londoner Exil organisierte der inzwischen aus dem Hausarrest entlassene Ben Bella zudem eine Front der Gegner des Regimes. Als sich auch noch die soziale Not infolge der sich rapide verschlechternden Wirtschaftslage in Massenprotesten Luft machte, musste sich Chadli 1988 dem Druck von der Straße beugen. Er lockerte das politische Monopol des FLN, leitete demokratische Reformen ein und trug den verschiedenen Forderungen durch eine neue Nationalcharta Rechnung, die einen pragmatischen Sozialismus mit privatwirtschaftlichen Komponenten betonte und die gesellschaftliche Bedeutung des Islam hervorhob. In seiner dritten Amtszeit legte Chadli 1989 eine neue Verfassung zur Volksabstimmung vor, in der von Sozialismus keine Rede mehr war und die erstmals eine politische Opposition legalisierte.

Nachdem bereits 1989 immer mehr islamische Fundamentalisten ihrem Protest gegen die Regierung in Demonstrationen Ausdruck verliehen hatten, setzte sich bei den ersten freien Kommunalwahlen im September 1990 die fundamentalistische Front Islamique du Salut (FIS), ein Zusammenschluss von fünf neuen Parteien, mit überwältigender Mehrheit gegen die FLN durch. In Anbetracht einer sich abzeichnenden absoluten Mehrheit der Fundamentalisten bei den Parlamentswahlen im Januar 1992 intervenierte die algerische Armeeführung unter General Khale Nezzar und zwang noch vor dem zweiten Wahlgang Chadli zum Rücktritt. Er wurde durch ein aus fünf Militärs bestehendes Hohes Staatskomitee ersetzt, das den aus dem Exil heimgekehrten ehemaligen Ben-Bella-Gegner Mohammed Boudiaf zum Übergangspräsidenten bestellte, der schon ein halbes Jahr später bei einem Attentat ums Leben kommen sollte. Das Staatskomitee annullierte die Wahlen, rief den Ausnahmezustand aus, löste das Parlament auf, verbot die FIS und ließ ihre Anführer verhaften.

Islamistischer Terror seit 1992

Militante Anhänger der Islamisten formierten sich daraufhin im Untergrund zum bewaffneten Widerstand, und es entbrannte ein langjähriger Bürgerkrieg, der schätzungsweise mehr als 100 000 Menschenleben gekostet hat. Wechselnde Marionettenregierungen der Militärs versuchten zunächst vergeblich, das Land mit Repressionen, Verhaftungen und Hinrichtungen zwangszubefrieden. 1994 bestellte das Staatskomitee den ehemaligen FLN-Kämpfer und Diplomaten Liamine Zéroual zum Präsidenten und bevollmächtigte ihn zum Dialog, der jedoch nicht in Gang kam, weil die Islamisten den zur Bedingung gemachten generellen Gewaltverzicht ablehnten.

Auf Seiten der sich ständig spaltenden bewaffneten islamistischen Gruppen taten sich besonders zwei im Guerillakrieg hervor: zum einen das Mouvement Islamique Armé (MIA) – der militärische Arm der FIS –, das sich seit Frühjahr 1994 Armée Islamique du Salut (AIS) nennt, und zum anderen die Groupe Islamique Armé (GIA). Während die MIA/AIS soziale Einrichtungen, Zivilisten und Ausländer weitgehend verschonten, richtete sich der Terror der GIA ganz gezielt gegen eben diese. Die GIA, die für einen Kalifatstaat kämpft und deren Todesschwadronen auf dem vorläufigen Höhepunkt 1997 massenweise Dörfer und Städte überfielen und dabei sogar Frauen, Kinder und Babys massakrierten, rekrutiert sich vornehmlich aus den Slums der Vorstädte. Im Gegensatz zur FIS lässt sie jede Dialogbereitschaft vermissen und wird als größtes Hindernis für eine politische Lösung zur Befriedung Algeriens angesehen.

Nach einer vorübergehenden Entspannung aufgrund eines Arrangements der AIS mit der FLN-Regierung von Abd al-Asis Bouteflika, der 1999 den entmachteten Präsidenten Zéroual ersetzte und reuigen Rebellen eine Amnestie anbot, nahmen andere bewaffnete Gruppen ab 2000 ihren Kampf mit unverminderter Härte wieder auf. Seitdem macht auch die militante Groupe Salafiste pour la Prédication et le Combat (GSPC), die als mutmaßliche Zelle der Al-Qaida gilt, von sich Reden. Ihre Angriffe richteten sich vornehmlich gegen Sicherheitskräfte und die so genannten Selbstverteidigungsgruppen. Inzwischen wird die GSPC aber auch für Entführungen ausländischer Touristen in der südlichen Sahara verantwortlich gemacht. Die Lage im Land verschärfte sich, seit sich Berber vom Stamm der Kabylen, die sich als unterdrückte Minderheit empfinden, 2001 erhoben und zu den Waffen griffen.

Seit der Ausschaltung wichtiger Führungsfiguren der GSPC und GIA in den Jahren 2004/05 hat der Krieg in Algerien an Intensität verloren. Per Referendum wurde im September 2005 eine von Bouteflika vorgelegte „Charta für Frieden und Versöhnung” verabschiedet, die eine weitreichende Amnestie für begangene Gewalttaten und Kriegsverbrechen auf allen Seiten vorsieht.

Verfasst von:
Roland Detsch

(© cpw)