Bürgertum

Heute Sammelbezeichnung für die Bürger aus den unterschiedlichen sozialen Gruppen, die zum gehobenen Mittelstand gezählt werden; die konstituierenden Merkmale dieser relativ inhomogenen und aufstiegsoffenen Gesellschaftsformation sind dabei weniger wirtschaftlicher oder politischer als kultureller Natur.

Der Begriff Bürgertum hat im Lauf der Geschichte mehrmals einen grundlegenden Bedeutungswandel erfahren. Zählte man in den Bürgergemeinwesen der griechischen und römischen Antike (polis und civitas) die zur Teilnahme an der „beratenden oder richtenden Behörde” (Aristoteles) berechtigten Träger der Haus- und/oder Grundherrschaft als polites bzw. cives dazu, so verstand man im Mittelalter darunter die zur Kernbevölkerung der Stadt aufgestiegenen Gewerbetreibenden, allen voran Kaufleute und Handwerker, die sich seit dem 12. Jahrhundert als eigener Stand zwischen Bauern und Adel etablierten. Im Gegensatz zur Landbevölkerung gelang es dem städtischen Bürgertum relativ früh, sich von den feudalen Zwängen und Abhängigkeiten zu befreien und sich vor allem in den Freien Reichsstädten einen eigenen, reichsunmittelbaren Rechtsstatus zu erwerben, der nicht zuletzt mit zahlreichen Privilegien verbunden war. Im Zeitalter des Absolutismus vorübergehend zum Untertanentum verurteilt, gewann das Bürgertum im Zuge des wirtschaftlichen Wandels zum Frühkapitalismus zunehmend an Einfluss und Selbstbewusstsein und wurde schließlich zum Träger der Revolutionen zur Beseitigung des Feudalismus.

Außer in der Schweiz, wo der Adel als handlungsfähige soziale Klasse schon längere Zeit nicht mehr existierte, gelang es dem Bürgertum bis ins 19. Jahrhundert nirgendwo in Europa, die politische, ökonomische und kulturelle Vormachtstellung des Ancien Régime wirklich zu brechen. Vor allem das um Bündnispartner gegen das aufmüpfige Proletariat bemühte Besitzbürgertum (Bourgeoisie) zeigte vielmehr sogar die Neigung zur Anbiederung an die Vertreter der alten Ordnung, der es durch die modifizierte Übernahme exklusiver Gesellschaftsriten und Privilegien nach Kräften nacheiferte. Dennoch bildete sich insbesondere unter dem Einfluss der protestantischen Leistungsethik (siehe protestantische Ethik) eine von bürgerlichen Tugenden wie Geschäftstüchtigkeit, Fleiß, Familiensinn, Bildungseifer und kulturelle Beflissenheit geleitete genuin bürgerliche Geisteshaltung heraus. Sie hat in unterschiedlicher Akzentuierung über die aus der bürgerlichen Konkurrenzmentalität resultierenden Widersprüche hinweg bis heute wesentlich zur Einheitsstiftung des Bürgertums beigetragen.

Verfasst von:
Roland Detsch

(© cpw)