Grundlegendes Vertragswerk, in dem
die Werte, Ziele, Organe, Zuständigkeiten,
Beschlussfassungsverfahren und Politikbereiche der Europäischen
Union (EU) definiert werden. Im VVE werden die bisherigen Verträge
der Europäischen Gemeinschaften (EG) teilweise in reformierter Form
und angereichert mit neuen Elementen und unter Einbezug der Charta
der Grundrechte der Europäischen Union in einem geschlossenen
Dokument mit konstitutionellem Charakter zusammengeführt.
Den Anstoß zu einer Verfassung gab
der Europäische Rat auf seinem Gipfel im Dezember 2000 in Nizza, um
die Union mit Blick auf die geplante große Erweiterung
handlungsfähig zu erhalten. Das auf Vorarbeiten des Europäischen
Verfassungskonvents basierende Vertragswerk wurde nach fast
einjährigen Beratungen in der Regierungskonferenz aller
EU-Mitgliedsstaaten sowie Beitrittskandidaten am 18. Juni 2004 in
Brüssel verabschiedet. Die feierliche Unterzeichnung durch die
Staats- und Regierungschefs erfolgte am 29. Oktober 2004 in Rom. In
Kraft treten sollte die Europäische Verfassung ursprünglich am 1.
November 2006, sofern sie bis dahin in allen Mitgliedsländern der EU
ratifiziert wäre. Nach zwei gescheiterten Referenden über die
Verfassung wurde der Ratifizierungszeitraum und damit auch das
In-Kraft-Treten der Verfassung allerdings auf 2007 verschoben. Haben
bis zum vorgesehenen Termin des In-Kraft-Tretens vier Fünftel der
EU-Staaten die Verfassung ratifiziert, einer oder mehrere Staaten
die Verfassung jedoch nicht angenommen, soll sich der Europäische
Rat mit dem Problem befassen. Die Gültigkeit der nationalen
Verfassungen wird von der Europäischen Verfassung nicht tangiert.
Der VVE gliedert sich in vier Teile
und enthält rund 460 Artikel. Die wesentlichsten Änderungen
gegenüber den EU-Verträgen ergaben sich bei den Organen und in der
Kompetenzordnung. Darüber hinaus trägt die Verfassung zur
Bereinigung einer Reihe von Unklarheiten zwischen Union und
Mitgliedsstaaten bei.
Erstmals wurde der Europäische Rat –
bis dato ein informelles Gremium der Staats- und Regierungschefs
ohne vertragliche Grundlage – als Institution festgeschrieben. Wie
zuvor wird er die Ziele der Union vorgeben und Impulse für die
Rechtsetzung geben. Die halbjährlich rotierende EU-Präsidentschaft
wurde indessen abgelöst durch einen für die Dauer von zweieinhalb
Jahren gewählten hauptamtlichen Präsidenten, durch den die
Europäische Union ein Gesicht erhält.
Zur Schärfung ihres internationalen
Profils soll ein Außenminister der Europäischen Union beitragen, der
die Ämter des bisherigen Kommissars für Auswärtige Beziehungen und
des Hohen Vertreters für die Gemeinsame Außen- und
Sicherheitspolitik (GASP) in einer Person vereinigt. Der
EU-Außenminister wird vom Europäischen Rat ernannt, führt den
Vorsitz im Rat für Auswärtige Beziehungen (siehe Rat der
Europäischen Union) und ist zugleich Vizepräsident der Europäischen
Kommission. Unterstützung soll er durch einen zu schaffenden
Europäischen Auswärtigen Dienst erhalten.
Der Rat der Europäischen Union
(Ministerrat) wird künftig bei allen Beratungen über
Gesetzgebungsvorhaben öffentlich tagen. Die Beschlussfassung erfolgt
dabei wie im Europäischen Rat nach dem Prinzip der so genannten
qualifizierten Mehrheit, durch die wenigstens ansatzweise den
unterschiedlichen Bevölkerungsstärken in den Ländern der
Europäischen Union Rechnung getragen wird. Gleichberechtigung
herrscht diesbezüglich weiterhin in der Europäischen Kommission. Aus
Effizienzgründen soll dieses Kollegium allerdings ab 2014 deutlich
verkleinert werden: Nur noch zwei Drittel der Mitgliedstaaten
entsenden in einem penibel festgelegten Rotationsverfahren jeweils
einen Kommissar. Bis dahin entsendet jedes EU-Mitglied einen
Kommissar. Die Stellung des Kommissionspräsidenten, der auf
Vorschlag des Europäischen Rates vom Europäischen Parlament gewählt
wird, wurde deutlich aufgewertet.
Die demokratischen Grundlagen der
Europäischen Union erfuhren durch die Verfassung eine wesentliche
Stärkung. So nähert sich etwa der politische Entscheidungsprozess
durch das Zusammenspiel von Europäischem Parlament und Ministerrat
dem Grundmuster parlamentarischer Zweikammersysteme. Im regulären
Gesetzgebungsprozess hat das Parlament nun grundsätzlich ein
Mitentscheidungsrecht und ist darüber hinaus in nahezu doppelt so
vielen Politikfeldern gleichberechtigt involviert. Dies im Verein
mit dem Instrument europäischer Volksinitiativen (Bürgerbegehren)
führt zu einem signifikanten indirekten und direkten Einflussgewinn
der EU-Bürger und damit zu einer Aufwertung der Europawahlen.
Als Stärkung der demokratischen
Spielregeln wird auch die Einrichtung eines Frühwarnsystems
gewertet, das den nationalen Parlamenten Einspruch gegen
Kommissionsvorschläge ermöglicht, die das Subsidiaritätsprinzip
verletzen. Ein Subsidiaritätsprotokoll legt fest, dass die Union nur
dort tätig wird, wo ihr in der Verfassung Aufgaben zugewiesen werden
und sofern diese am besten auf der europäischen und nicht auf der
nationalen oder regionalen Ebene gelöst werden können. Die
nationalen Parlamente können sich durch Kontrollrechte und
Klagemöglichkeiten vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH)
Gehör verschaffen. Gestärkt wurden diesbezüglich auch die Rechte der
lokalen und regionalen Gebietskörperschaften, also insbesondere der
Städte und Gemeinden. Zudem weitet die Verfassung die
Zugangsmöglichkeiten zum auch für Privatleute deutlich aus, u. a.
durch individuelle Klagebefugnis bei unmittelbarer Betroffenheit
durch verordnetes EU-Recht.
Der Prozess der Ratifizierung der
Verfassung begann kurz nach der Unterzeichnung des Dokuments durch
die Staats- und Regierungschefs im Oktober 2004: Als erstes Land
ratifizierte im November 2004 Litauen die Verfassung; es folgten
Ungarn (Dezember 2004), Slowenien und Spanien (Februar 2005),
Italien und Griechenland (April 2005) sowie die Slowakei, Belgien,
Österreich und Deutschland (Mai 2005), wobei in Deutschland noch
eine Verfassungsbeschwerde gegen die Verfassung anhängig ist. In
Frankreich (29. Mai) und den Niederlanden (1. Juni) verweigerten die
Wähler in Referenden der Verfassung jedoch deutlich die Zustimmung,
was in den Augen von EU-Kritikern die gesamte Verfassung in Frage
stellte und in der Tat einen Rückschlag im Prozess der europäischen
Einigung bedeutete. In der Folge beschloss der Europäische Rat, den
Ratifizierungsprozess bis 2007 zu verlängern, womit natürlich auch
der 1. November 2006 als Datum des In-Kraft-Tretens der Verfassung
hinfällig wurde. Ungeachtet dessen ratifizierten in der Folgezeit
die Parlamente von Lettland und Zypern (Juni 2005) und Malta (Juli
2005) die Verfassung, und in Luxemburg stimmte die Bevölkerung in
einem Referendum für die Verfassung (Juli 2005).
Verfasst von:
Roland Detsch
(© cpw, 2006)