Europagedanke
Ideen
und Konzepte zur Einigung Europas.
Die
Pläne und unterdessen auch konkreten Maßnahmen zur Überwindung
der Nationalstaatlichkeit und zu einem wirtschaftlichen und
politischen Zusammenschluss der europäischen Länder haben eine
lange Tradition, die bis ins späte Mittelalter zurückreicht. So
waren etwa bereits zu Beginn des 14. Jahrhunderts Dante
Alighieri und der französische Jurist und Berater des Königs,
Pierre Dubois, inspiriert von der antiken Pax Romana im
augusteischen Imperium oder von der Einheit der abendländischen
Christenheit im Reich Karls des Großen, von Visionen einer
politischen Vereinigung Europas beseelt. Ende des
17. Jahrhunderts schlug der englische Staatsmann William Penn
zur Sicherung des Friedens erstmals die Einrichtung eines
gesamteuropäischen Parlaments vor. Konkreter und umfassender noch
kam der Europagedanke bei Abbé de Saint-Pierre zum Ausdruck, der
nach dem Spanischen Erbfolgekrieg in seinem dreibändigen Werk Projet
pour rendre la paix perpétuelle en Europe (1713-1717; Der
Traktat vom ewigen Frieden) das Konzept eines wirtschaftlich und
monetär zusammengefügten europäischen Bundes mit einem
gemeinsamen Gesandtenkongress und Gerichtshof entwarf.
Nach
der kurzlebigen Vereinigung Europas durch Napoleon waren es in
erster Linie handfeste ökonomische, auf überregionale Wirtschafts-
und Währungsunionen ausgerichtete Interessen, die den
Bündnisgedanken weiter beförderten. So entwickelte etwa der
belgische Nationalökonom Gustave de Molinari nach der deutschen
Reichsgründung (1871) einen Plan zu einer deutsch-französischen
Zollunion, der sich später Österreich-Ungarn, Belgien, die
Niederlande, Dänemark und die Schweiz anschließen sollten.
Während Otto von Bismarck diesen Gedanken ins Reich der Utopie
verwies, stieß er bei der aufkommenden Freihandelsbewegung auf
lebhafte Resonanz. Bereits 1865 war auf der Basis der Convention
Monètaire (Münzkonvention) der so genannte Lateinische
Münzbund geschlossen worden, dem Frankreich, die Schweiz, Belgien,
Italien und später Griechenland angehörten und nach dessen Vorbild
1872 die Skandinavische Münzunion entstand, die die Grundlage der
bis heute existierenden skandinavischen Einheitswährung Krone
legte. Beide Münzunionen hatten bis nach dem 1. Weltkrieg
Bestand.
An
der Schwelle zum 20. Jahrhundert gewann neben dem
wirtschaftlichen auch der politische Einigungsgedanke wieder
zunehmend an Strahlkraft. In diese Zeit datiert der
Mitteleuropa-Plan Friedrich Naumanns ebenso wie die von Karl Renner
unter dem Pseudonym Rudolf Springer propagierten Vereinigten Staaten
von Großösterreich. Zum Vordenker der Paneuropa-Bewegung wurde
nach dem Ende des 1. Weltkrieges Richard Nicolaus Graf
Coudenhove-Kalergi, dem ein politisch und wirtschaftlich geeintes
Europa mit einheitlicher Währung vorschwebte, ehe er nach der
Machtergreifung Adolf Hitlers ein Donaueuropa mit Wien als
Mittelpunkt favorisierte, wo er ab 1935 bis zum Anschluss
Österreichs an das Deutsche Reich eine paneuropäische
Wirtschaftszentrale betrieb. 1930 veröffentlichte der französische
Außenminister Aristide Briand sein berühmtes Memorandum L’organisation
d’un régime d’union fédérale européenne (Memorandum zur
Errichtung der Vereinigten Staaten von Europa), dessen Ideen nach
dem 2. Weltkrieg in die Konzeptionen für ein geeintes Europa
einflossen.
Der
moderne Europagedanke, wie er sich nach dem 2. Weltkrieg
herauskristallisierte und in den Europäischen
Gemeinschaften (EG) und schließlich in der Europäischen
Union (EU) Gestalt annahm, hat seine Wurzeln nicht nur in
Europa; seine Konkretisierung geht vielmehr auch auf
US-amerikanische Initiative zurück: Die neuere historische
Forschung schreibt sie einer Gruppe junger Ökonomen und
Politikwissenschaftler im amerikanischen Außenministerium zu, die
1946 die Idee hatten, Deutschland in das Europäische
Wiederaufbauprogramm (European Recovery Program, ERP, auch
Marshallplan) einzubeziehen und die Wiederaufbauhilfe des
Marshallplanes an Bedingungen der wirtschaftlichen (und später
politischen) Zusammenarbeit zwischen den ERP-Ländern Westeuropas zu
koppeln. Dementsprechend knüpften sie die zum Wiederaufbau
bestimmte Wirtschaftshilfe an vier Auflagen: (1) feste
Wechselkurse zur Garantie der Währungskonvertibilität; (2) schrittweiser
Abbau der Zölle und Gründung einer Zollunion; (3) Beteiligung
an einer Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa
(OEEC, siehe OECD); und (4) Aufnahme von Gesprächen
über einen engeren Zusammenschluss mit dem Ziel der politischen
Einigung spätestens zehn Jahre nach Verabschiedung des
Europäischen Wiederaufbauprogramms am 3. April 1948.
Verfasst von:
Roland Detsch
(© cpw)
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