Judenfrage
Schlagwort
für die Problematik der jüdischen Identität im Spannungsfeld von
Diaspora und Assimilation.
Die
Frage nach dem Selbstverständnis der Juden, ihrer Bereitschaft zur
Selbstaufgabe ihrer Sonderexistenz und nicht zuletzt die Frage,
welche Haltung Staat und nichtjüdische Gesellschaft ihnen
gegenüber einnehmen sollten, wurde erst virulent, als sich die
Juden nach Jahrhunderten der Zwangsisolation in Ghettos im Verlauf
des 18. und 19. Jahrhunderts zunehmend zu emanzipieren und in
die Wirtschafts- und Kulturgemeinschaft der nichtjüdischen
Bevölkerungsmehrheiten zu integrieren suchten.
Dies
stellte die zu dieser Zeit noch immer mehr oder minder
monolithischen soziopolitischen Systeme vor ernsthafte Probleme.
Anders als in pluralistischen Staatswesen wurden im Zeitalter des
säkularisierten Nationalstaates nur Bürger gleicher Nationalität
als voll- bzw. gleichberechtigt anerkannt. Zwar betrachtete der
Staat den Bürger durchaus schon als mit Rechten ausgestattetes
Individuum, doch duldete er keinerlei Gebilde oder Körperschaften,
die als „Staat im Staate" angesehen werden konnten. Der
Erwerb bzw. die Inanspruchnahme der vollen Bürgerrechte verlangten
von den Juden dementsprechend zumindest die Aufgabe eines
spezifischen Nationalgefühls und – soweit vorhanden – eigener
Organisationsformen.
In
der Konsequenz bedeutete dies für nicht wenige Juden jedoch die
Grundsatzfrage nach dem künftigen Selbstverständnis. Während die
Gegner der Emanzipation und Eingliederung hartnäckig daran
festhielten, die Juden trotz ihrer äußeren Assimilation weiterhin
als eigene „Nation" zu bezeichnen, bemühte sich ein
erheblicher Teil der Juden mit bis an Selbstverleugnung grenzender
Radikalität, mit den eigenen kulturellen und religiösen
Traditionen zu brechen, um so ihre gesellschaftliche
Integrationsfähigkeit unter Beweis zu stellen. In Deutschland
z. B. kam die massenhafte Abwendung der Juden vom Judentum erst
Mitte des 19. Jahrhunderts zum Stillstand, als es zu einer
Wiederbelebung jüdischer Gemeinden zur Pflege von Religion und
Kultus kam.
Die
Nationalsozialisten empfanden die Judenemanzipation als schweres
Verhängnis. Sie sahen in den Juden eine mit negativen
Charaktereigenschaften behaftete Menschengruppe, deren rassische
Geschlossenheit sie aus allen übrigen Völkern heraushebe und deren
Blutsbande es dem Einzelnen unmöglich mache, sich vom Judentum zu
lösen. Ihr antisemitischer Rassenwahn kulminierte auf der
Wannseekonferenz im zynischen Beschluss zur „Endlösung der
Judenfrage" .
Verfasst von:
Roland Detsch
(© cpw)
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