Parallelgesellschaft

Soziale Gemeinschaft einer Minorität, die sich von der Mehrheitsgesellschaft absondert oder von dieser ausgeschlossen wird.

Parallelgesellschaften sind gekennzeichnet durch autonome organisatorische Strukturen, die ein Leben in weitreichender Autarkie erlauben. Sie stellen soziale Beziehungen her, dienen der Identitätspflege nach Innen, wirken der Resignation vor dem Gefühl individueller Isolation entgegen und erleichtern ihren Mitgliedern das Leben in einer fremden Kultur. Besonders in Situationen sozialer Ausgrenzung und ökonomischer Deklassierung erweisen sie sich zudem als willkommene Refugien und Schutzzonen.

In Deutschland wurde der Begriff „Parallelgesellschaft“ als mögliche Folge der ethnisch-religiösen Diskriminierung islamischer Minderheiten im Allgemeinen und türkischer im Besonderen in den Neunzigerjahre des 20. Jahrhunderts von Wilhelm Heitmeyer in die Diskussion eingeführt. Der Soziologe machte deutlich, dass solche Subgesellschaften das Ergebnis einer sozio-kulturellen Segregation infolge ökonomischer und sozialer Krisen der Mehrheitsgesellschaft sein können. Zum politischen Kampfbegriff in der Debatte um das Scheitern von Multikulturalismus und Integration avancierte er vor dem Hintergrund der wachsenden Islamophobie im Gefolge der Terroranschläge vom 11. September 2001.

Die führende Beteiligung muslimischer Zuwanderer mit zum Teil deutscher Staatsbürgerschaft an den Attentaten offenbarte das unterschätzte Bedrohungspotenzial, das von der Duldung islamischer Parallelgesellschaften für eine offene Gesellschaft ausgeht. Nun stellte sich heraus, dass radikalislamische Kräfte, die in ihrer Heimat verfolgt werden, in Europa offenbar nicht nur Schutz sondern auch Freiraum für ihre politischen und kriminellen Umtriebe suchen. Der Islamismus hat in der deutschen Islam-Diaspora stark zugenommen und die gescheiterte Integration ausgenutzt, um die Bildung von Parallelgesellschaften gezielt zu fördern. Nicht nur Politiker aus dem rechtskonservativen Spektrum sondern auch erklärte Reform-Muslime und Verfechter eines „Euro-Islam“, zeigen keinerlei Verständnis für die unter Gesinnungsethikern gepflegte Migrationsromantik und Islamophilie. Sie warnen vor falsch verstandener Toleranz, plädieren für eine „wehrhafte Demokratie“ und fordert die Sozialisierung der Migranten gemäß den Werten einer „europäisch-westlichen Leitkultur“ (Bassam Tibi), an deren erster Stelle die Loyalität zum säkularen Staat und die Achtung der Menschenrechte stehen müsse.

Das Phänomen Parallelgesellschaft ist kein Novum. Abgesehen von den multikulturellen Stammes- und Clangesellschaften bestand auch in modernen Nationalstaaten stets die Tendenz zur freiwilligen wie unfreiwilligen Separation bzw. Ghettoisierung nicht assimilationswilliger oder -fähiger Minderheiten. So haben Integrationsvorbehalte dazu geführt, dass die Juden auch nach der ihrer Emanzipation (Gewährung staatsbürgerrechtlicher Rechte) im 19. Jahrhundert bei einem Großteil der Bevölkerung nicht als Deutsche anerkannt wurden (siehe: Judenfrage). Welch ungeheures Bereicherungspotenzial in Separat- und Sonderkulturen für die jeweilige Mehrheitsgesellschaft stecken kann, beweisen eine Reihe erfolgreicher Eingliederungsversuche. Als Beispiele aus der neueren deutschen, niederländischen oder auch schweizerischen Geschichte nennt der Politikwissenschaftler Franz Walter die Integrationen der katholischen, calvinistischen und sozialdemokratischen Parallelgesellschaften des 19. und 20. Jahrhunderts.

Walter zufolge stellen Parallelgesellschaften keineswegs per se eine Bedrohung oder Belastung der pluralistischen Gesellschaft dar. Wenn ethnische oder kulturelle Konflikte, die zur eigenkulturellen Absonderung geführt hätten, noch zusätzlich von sozialen oder ökonomischen Spannungen durchwirkt würden, wenn die Angehörigen einer solchen Separatkultur überwiegend jung seien und sich blockiert fühlten, dann sei die „fundamentalistische Energie“ außerordentlich groß. „Existieren dagegen Brückenköpfe zur Mehrheitsgesellschaft, sind positiv erfahrene Berührungszonen – Sportvereinswesen, ein förderndes und durchlässiges Bildungssystem, Wahlrecht, übrigens auch: das Militär – im Alltag vorhanden, sind die Eliten der ‚Parallelgesellschaft’ und der Mehrheitsgesellschaft dialogfähig, dann sind die integrativen Möglichkeiten hoch.“

Historisch betrachtet hätten die meisten Parallelgesellschaften – oft gegen ihre ursprüngliche Absicht – eine beachtliche Vermittlungs- und Stabilisierungsleistung hervorgebracht. „Je aufstiegsoffener, antihierarchischer, sozial fließender die herkömmliche Kerngesellschaft sich verhielt, desto stärker konnte dies gelingen.“

Verfasst von:
Roland Detsch

(© cpw)