Schulpflicht

Gesetzliche Pflicht für Kinder und Jugendliche zu einem Mindestschulbesuch.

In Deutschland unterliegen alle Kinder nach Vollendung des sechsten Lebensjahres der allgemeinen Schulpflicht. Diese beträgt in der Regel neun, in manchen Bundesländern aber auch zehn (in Berlin, Brandenburg, Bremen und Nordrhein-Westfalen) Vollzeitschuljahre. Daran schließt sich eine Berufsschulpflicht an, die jedoch durch den weiteren Besuch einer Vollzeitschule ersetzt werden kann. Die Berufsschulpflicht endet (abhängig vom Bundesland bzw. der Dauer des Ausbildungsverhältnisses in einem anerkannten Ausbildungsberuf) nach zwei oder drei Jahren mit Vollendung des 18. Lebensjahres oder mit dem Ende desjenigen Schuljahres, in dem das 18. Lebensjahr vollendet wird. Für Jugendliche, die weder eine weiterführende allgemeinbildende Schule besuchen noch in ein Ausbildungsverhältnis eintreten, ist in einzelnen Bundesländern eine verlängerte Vollzeitschulpflicht im beruflichen Schulwesen vorgesehen. Die Schulpflicht gilt ausnahmslos für alle Kinder und Jugendliche. Behinderte werden entsprechend ihrem jeweiligen sonderpädagogischen Förderbedarf entweder in allgemeinen Schulen zusammen mit nichtbehinderten Schülern oder in Sonderschulen unterrichtet.

Die Schulpflicht umfasst die regelmäßige Teilnahme am Unterricht und an sonstigen verpflichtenden Schulveranstaltungen. Verantwortlich für ihre Erfüllung sind sowohl der Schüler und seine Eltern, als auch der Ausbildungsbetrieb im Rahmen der Berufsschulpflicht. Die Einhaltung der gesetzlichen Schulpflicht wird durch den Schulleiter kontrolliert und kann gegenüber dem Schüler, den Eltern oder dem Ausbildungsbetrieb mit rechtlichen Zwangsmitteln durchgesetzt werden.

Bis ins 19. Jahrhundert war in den deutschen Staaten wie in anderen europäischen Ländern der Schulbesuch nicht einheitlich geregelt und unterlag starken regionalen und sozialen Unterschieden: Es gab beispielsweise kirchliche Sonntagsschulen und andere Bekenntnisschulen (z. B. jüdische Volksschulen und Klosterschulen), der Unterricht für die Kinder aus den vermögenden Schichten fand meist als Privatunterricht statt.

Die Pflicht zu einer Mindestausbildung von Kindern, die nach der Reichsgründung 1871 in Deutschland allgemeinverbindlich eingeführt wurde, steht in der Tradition der seit 1717 geltenden und 1794 zur Staatsaufgabe erhobenen preußischen Schulpflicht. Diese wurde erstmals von König Friedrich Wilhelm I. Ende des 17. Jahrhunderts in der Principia regulativa niedergelegt und bildete 1763 das Kernstück des Generallandschulreglements, mit dem König Friedrich II. zugunsten breiter sozialer Schichten das Bildungsmonopol der Kirchen brechen wollte. Eine Konkretisierung erfuhr die Schulpflicht im Rahmen der Bildungsreformen des preußischen Kultusministers Wilhelm von Humboldt, der jedoch als Vertreter des Liberalismus die Auffassung vertrat, dass der Staat ausschließlich für eine Allgemeinbildung Sorge zu tragen habe und alles, was darüber hinaus geht, Privatsache sei.

Aufgrund des vergleichsweise hohen Bildungsstandes in Deutschland sah die Reichsregierung 1871 von einem zwangsweisen Besuch öffentlicher Schulen ab und stellte den Eltern die Gestaltung der Vermittlung der geforderten Mindestkenntnisse frei. Dies änderte sich erst mit Aufnahme von Recht und Pflicht zum Schulbesuch in die Weimarer Verfassung von 1919. Mit der Festschreibung von neun Vollzeitschuljahren (allgemeine Schulpflicht), gefolgt von drei Teilzeitschuljahren (Berufsschulpflicht), die auch im Dritten Reich Bestand hatte, wurde die allgemeine Schulpflicht der Weimarer Verfassung zum Vorbild für die Bundesrepublik Deutschland. Im Unterschied dazu fällt sie jedoch infolge der föderalen Ordnung als Staatsaufgabe in die Zuständigkeit der Bundesländer, deren Schulwesen durch das Düsseldorfer Abkommen am 17. Februar 1955 harmonisiert und durch das Hamburger Abkommen am 28. Oktober 1964 novelliert wurde. In der DDR war unterdessen ab 1959 bis zur Wiedervereinigung der Besuch der zehnklassigen Allgemeinbildenden Polytechnischen Oberschule obligatorisch.

Der Zwangscharakter der deutschen Schulpflicht stößt neuerdings immer häufiger auf den Widerstand von Eltern, die sich für einen Unterricht ihrer Kinder in eigener Regie stark machen. Sie rekurrieren dabei auf andere Ländern, wo dies möglich ist. Nicht nur in den USA, auch in Großbritannien, Kanada, Norwegen, Österreich oder in der Schweiz besteht keine Schulpflicht. Dort herrschen statt dessen alternative Formen einer staatlich überwachten Bildungs- oder Unterrichtspflicht, die auch die Möglichkeit eines Heimunterrichts eröffnen, der in Ländern wie Dänemark, Finnland und Irland sogar Verfassungsrang genießt. Bei der Mehrheit der Schulpflichtgegner, die sich in der so genannten Homeschooling-Bewegung organisiert haben, handelt es sich um Anhänger von Sekten, denen vor allem der Religions-, Biologie- und Sexualkundeunterricht an den Schulen in Deutschland ein Dorn im Auge ist.

Verschiedene Anläufe von Anhängern dieser Bewegung, die allgemeine Schulpflicht auf dem Rechtsweg zu Fall zu bringen, sind bisher gescheitert. So bejahte etwa das Bundesverfassungsgericht die Schulpflicht als legitimes Mittel zur Durchsetzung des staatlichen Erziehungsauftrages, der sich nicht nur auf die bloße Wissensvermittlung richte, sondern auch auf die Herausbildung selbstverantwortlicher Persönlichkeiten und verantwortungsvoller Staatsbürger in einer pluralistischen Gesellschaft. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, der die Schulpflicht grundsätzlich in das Ermessen der Vertragsstaaten stellt, teilte die Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes, welches das Interesse der Allgemeinheit betonte, die Entstehung von weltanschaulich begründeten Parallelgesellschaften zu verhindern. Die Gerichte stimmten überein, dass die Schulpflicht den Eltern nicht das Recht entzieht, „in Bezug auf ihre Kinder natürliche elterliche Funktionen als Erzieher auszuüben oder ihre Kinder auf einen Weg zu bringen, der ihren eigenen religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen entspricht“.

Verfasst von:
Roland Detsch

(© cpw)