Überbegriff für Formen indirekter Gewalt und
Zwänge, die in den herrschenden gesellschaftlichen, innerstaatlichen
oder auch zwischenstaatlichen Verhältnissen begründet liegen. Sie
ist weniger Ausfluss persönlicher Willkür als logische Konsequenz
von soziopolitischen wie sozioökonomischen Systemen, Ideologien,
Ordnungen und Gesetzen. Opfer von struktureller Gewalt, die durch
Ungerechtigkeit, Ausbeutung, Unterdrückung, Diskriminierung,
Ausgrenzung etc. gekennzeichnet ist, sind nicht Einzelpersonen
sondern ganze Gruppen oder Völker. Sie liegt vor, wenn staatliches
oder politisches Handeln nur einseitig den Interessen bestimmter
Teile der Gesellschaft bzw. bestimmten Staaten zugute kommt. Da die
Auswirkungen struktureller Gewalt von den Betroffenen oft gar nicht
als unmittelbare Gewaltakte wahrgenommen sondern als Sachzwänge
hingenommen werden, lassen sich die dafür Verantwortlichen nur
schwer benennen.
Der von den Gegnern der Globalisierung
wiederentdeckte, wissenschaftlich umstrittene Begriff wurde bereits
Anfang der Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts von Johan Galtung
geprägt. Der norwegische Soziologe und Friedensforscher definierte
strukturelle Gewalt als „vermeidbare Beeinträchtigung grundlegender
menschlicher Bedürfnisse oder, allgemeiner ausgedrückt, des Lebens,
die den realen Grad der Bedürfnisbefriedigung unter das herabsetzt,
was potenziell möglich ist“. Dabei spricht Galtung immer dann von
Gewalt, wenn Grundbedürfnisse wie das Überleben, das allgemeine
körperliche Wohlbefinden, die persönliche Identität oder die
Freiheit, zwischen verschiedenen Möglichkeiten auswählen zu können,
in Frage stehen. Als wesentliche Formen der strukturellen Gewalt
arbeitet er in diesem Zusammenhang Armut („Entzug des
Lebensnotwendigen“), Unterdrückung („Entzug der Menschenrechte“) und
Entfremdung („Entzug höherer Erfordernisse“) heraus.
Mit seiner Erweiterung des Gewaltbegriffes gab
Galtung auf dem Höhepunkt der Dekolonisation mit einer vor allem auf
der politischen Linken viel beachteten Studie der
Imperialismusdebatte neue Impulse. In seinem
„Zentrum-Peripherie-Modell“ zeigte er die strukturellen
Erscheinungsformen der Abhängigkeit innerhalb sowie zwischen den
Industrieländern (Zentrum) und den Entwicklungsländern (Peripherie)
auf. Indem er unterstellte, dass Transferleistungen hauptsächlich in
Projekte flössen, die im Norden finanziell lukrativ erachtet werden,
entlarvte er die Entwicklungshilfe als Mittel, den Süden in eine
ruinöse Schuldenkrise zu treiben, um Abhängigkeitsverhältnisse zu
zementieren.
Mit seinem Konzept der strukturellen Gewalt
als Ursache von sozialer Ungerechtigkeit hat Galtung die Grenzen des
klassischen Gewaltbegriffs überwunden, was ihm nicht nur Zustimmung
eingebracht hat. Kritiker warnen vor einer bedenklichen Verwässerung
des Gewaltbegriffs. Indem sie als etwas Vermeidbares definiert wird,
das der menschlichen Selbstverwirklichung im Wege steht, drohe
Gewalt zu einem beliebigen Phänomen zu verkommen, das
unterschiedslos alle Übel dieser Welt erfasst und damit letztlich
den Blick auf die eigentlichen Gewalttaten und Täter verstelle. So
könne es beispielsweise nicht angehen, dass die Opfer von
Wohlstandsgefälle, Arbeitslosigkeit, Chancen- und
Verteilungsungleichheit gleichermaßen zu Leidtragenden diffuser
Gesetze der Globalisierung oder des kapitalistischen Systems gemacht
würden.
Dabei sind Galtungs Thesen keineswegs
originell. Er steht damit vielmehr in einer langen Tradition, die
bis zu Karl Marx zurückreicht, für den Gewalt stets eine ökonomische
Dimension hatte: „Das Kapital ist (…) die Regierungsgewalt über die
Arbeit und ihre Produkte. Der Kapitalist besitzt diese Gewalt, nicht
seiner persönlichen oder menschlichen Eigenschaften wegen, sondern
insofern er Eigentümer des Kapitals ist. Die kaufende Gewalt seines
Kapitals, der nichts widerstehen kann, ist seine Gewalt.“
Strategien zur Beseitigung der
systeminhärenten Zwänge hat schon die Studentenbewegung der
Sechzigerjahre des 20. Jahrhunderts beschäftigt. Dies kommt
insbesondere in der Kontroverse über die Legitimität von Gewalt –
wenn schon nicht gegen Personen so doch zumindest gegen Sachen – als
Mittel des aktiven Widerstands der Unterdrückten gegen die
herrschenden Verhältnisse zum Ausdruck. Geradezu programmatisch
wurde der „Kampf gegen die Gewalt des Systems“ für militante
Gruppierungen wie die Rote Armee Fraktion (RAF), die Roten Brigaden
oder die Action Directe, die ihren blutigen Terror skrupellos gegen
vermeintliche Symbolfiguren dieses Systems richteten. Noch heute
herrscht besonders in der links-„autonomen Szene“ die Bereitschaft
vor, Gewalt im Sinne einer „befreienden Gewalt“ zur Überwindung der
strukturellen Zwänge in Staat und Gesellschaft anzuwenden.
Verfasst von:
Roland Detsch
(© cpw)