Tunesien

Geschichte

Steinwerkzeugfunde im Süden des heutigen Tunesien belegen, dass das Gebiet schon seit über 100 000 Jahre von Menschen bevölkert wird. Bereits in vorgeschichtlicher Zeit lebten hier die Berber, ein hellhäutiges Volk nomadisierender Hirten, das vermutlich vor 4000 Jahren aus dem westlichen Asien nach Nordafrika eingewandert war. Nicht zuletzt wegen seiner geostrategisch günstigen Lage zwischen Orient und Okzident zog das Land zahlreiche Eroberer an und wurde nacheinander von Phöniziern, Römern, Vandalen, Byzantinern, Arabern, Osmanen und Franzosen beherrscht. Von herausragender zivilisatorischer und ethnischer Bedeutung waren dabei die semitischen Phönizier. Denn Tunesien war in der Antike Zentrum des mächtigen Reiches der Punier, das auf seinem Höhepunkt den größten Teil Nordafrikas, den Süden der Iberischen Halbinsel, Sardinien und Teile Siziliens umfasste. Seine Hauptstadt Karthago, ursprünglich eine Gründung phönizischer Seefahrer (814 v. Chr.) und im letzten Punischen Krieg 146 v. Chr. zerstört, lag auf einer Halbinsel nordöstlich der heutigen Tunis.

Arabisierung und Berberdynastien

Im 7. Jahrhundert fielen Araber auf ihren großen Feldzügen zur Verbreitung des Islam ein. Sie beendeten gegen den heftigen Widerstand vor allem der einheimischen Berber die römisch-christliche Kultur, die sich unter dem Einfluss der Malteser dort entwickelt hatte, und integrierten das Land in das sunnitische Kalifat der Omaijaden. Sein Niedergang ermöglichte es den unterdrückten Berbern eigene Königreiche zu errichten und mächtige Dynastien hervorzubringen. Die bedeutendsten waren die Ziriden, Almohaden und vor allem die Hafsiden, die zwischen dem 12. und 16. Jahrhundert von Tunis aus regierten und ihrem Reich den Namen Tunesien gaben. Sie unterhielten lebhafte Handelsbeziehungen mit den Mittelmeeranrainern und auch nach Europa. Durch dynastische Zerwürfnisse und Auseinandersetzungen mit lokalen Stammesfürsten schon weit jenseits ihres Zenits, verlegten sich die Hafsiden im 15. Jahrhundert auf die lukrative Piraterie. Sie stellten Korsaren als Freibeuter in ihre Dienste, die Tunis zum Stützpunkt für ihre Raubzüge ins Mittelmeer machten.

Osmanenherrschaft

Von Arabern und Spaniern, die Teile des Binnenlandes und die nordafrikanische Küste besetzten, gleichermaßen in Bedrängnis gebracht, verbündeten sich die Korsaren mit den Osmanen, die 1574 die Herrschaft der Hafsiden beendeten. Für den Schutz der Statthalters in den osmanischen Provinzhauptstädten sorgten Elitetruppen der Janitscharen, die im 17. Jahrhundert immer eigenmächtiger wurden und zusammen mit den Korsaren eigene Herrscher einsetzten, die den Titel Dey trugen. In Tunis wurden die Deys bereits 1640 wieder von den osmanischen Muradiden-Beys abgelöst. Der „Bey von Tunis“, Hussein ibn Ali, begründete 1705 die Dynastie der Husseiniden (bis 1957), unter denen Tunesien weitgehend Autonomie genoss. Es erlebte eine Blütezeit und stieg unter Hammouda Bey (1782 – 1814) zur Regionalmacht auf. Wesentlichen Anteil am Wohlstand des Landes hatten die arabischen Morisken, die sich nach ihrer Vertreibung aus Spanien in großer Zahl in Tunesien niederließen.

Französisches Protektorat

Parallel zur Kolonisierung Algeriens Mitte des 19. Jahrhunderts sicherten sich die Franzosen in Absprache mit Großbritannien Tunesien als Interessengebiet. 1881 überquerten franco-algerische Truppen die Grenze und zwangen den Bey am 12. Mai Frankreich als „Schutzmacht“ anzuerkennen. Die Herrschaft der Franzosen, die sich den Bey als formalen Regenten zur Marionette machten, hatte tiefgreifende politische und sozioökonomische Veränderungen zur Folge. Die Protektoratsverwaltung sorgte für eine moderne Infrastruktur und lockte europäische Siedler ins Land. So führten etwa die Aneignung und Ausbeutung des Bodens und der natürlichen Ressourcen zum Nutzen des französischen Mutterlandes einerseits und die Einfuhr industrieller Massenwaren andererseits zu Landflucht und Niedergang des traditionellen Handwerks. Soziale Probleme und Ausgrenzung von der politischen Teilhabe führten zu wachsendem Unmut unter den Tunesiern, die sich 1911 erstmals gegen die fremden Machthaber erhoben.

Nationale Bewegung

Der aufkeimende Nationalismus fand in der Bewegung der „Jungtunesier“ Ausdruck. Der Wunsch nach Selbstbestimmung manifestierte sich schließlich in der Gründung verschiedener nationalistischer und religiöser politischer Gruppierungen, die sich 1920 zur gemäßigten Destour (Verfassung) vereinigten. Aktiven Widerstand in Form von teilweise blutig niedergeschlagenen Streiks leistete zuerst die 1925 gegründete Confederation Generale des Travailleurs Tunisiens (CGTT), die das verelendete Stadtproletariat vertrat. 1934 ging aus einer Abspaltung der Destour die wesentlich radikalere Partei Néo-Destour hervor. Mitbegründer war Habib Bourguiba, der für seinen Unabhängigkeitskampf Unterstützung im Ausland suchte. Er unterhielt gute Kontakte zu sozialistischen, kommunistischen und ultranationalistischen Organisationen in Frankreich und anderen Teilen des französischen Kolonialreiches und wurde mehrfach verhaftet.

Unabhängigkeit

Tunesien war im Zweiten Weltkrieg jahrelang Schauplatz des Wüstenkrieges zwischen Deutschen, Italienern und den Alliierten, der Zehntausenden Einheimischen das Leben kostete und das Land völlig ruinierte. Verschlimmert wurde die Lage durch Hungersnöte infolge der Dürrejahre 1945 und 1947. Obwohl Frankreich Tunesien zwischenzeitlich Teilautonomie innerhalb der Französischen Union zuerkannt und Einheimische an der Regierung beteiligt hatte, nahmen die Spannungen zu. Nach der Ermordung tunesischer Oppositionspolitiker entluden sie sich 1952 in offener Gewalt. Streiks, Sabotageakte und Anschläge der tunesischen Untergrundbewegung wurden von den französischen Besatzern mit militärischen Mitteln geahndet, die Hunderte Todesopfer forderten. Erst der priorisierte Algerienkrieg brachte Frankreich zum Einlenken. Versuchte die Regierung in Paris ihr Protektorat am 3. Juni 1955 noch durch das Zugeständnis einer erweiterten Autonomie zu halten, sah sie sich am 20. März 1956 doch gezwungen, es in die Unabhängigkeit zu entlassen.

Aus den ersten Wahlen zur Nationalversammlung am 25. März 1956 ging die Néo-Destour-Partei mit großer Mehrheit als Sieger hervor. Am 25. Juli 1957 wurde der Bey, der inzwischen den Königstitel angenommen hatte, abgesetzt und der Übergang von der Monarchie zur Republik durch die Ernennung von Präsident Habib Bourguiba zum Staats- und Regierungschef vollendet.

Die Entlassung der Franzosen aus dem Staatsdienst löste einen Massenexodus europäischer Fachkräfte aus, der die Wirtschaft stark belastete. Die neue Regierung trennte Staat und Religion, ersetzte die Scharia durch ein bürgerliches Recht und leitete politische und wirtschaftliche Reformen nach westlichem Vorbild ein, womit sie sowohl bei den traditionsverhafteten Muslimen als auch bei linken Gewerkschaftern Unmut hervorrief. Der Popularität des autoritär regierenden Präsidenten tat dies jedoch nur wenig Abbruch. Nachdem am 1. Juni 1959 die erste Verfassung der tunesischen Republik in Kraft getreten war, wurde Bourguiba am 8. November ohne Gegenkandidat im Amt bestätigt, und seine Néo-Destour-Partei eroberte sämtliche Sitze in der Nationalversammlung.

Konflikte mit Frankreich

Mehrmalige Grenzverletzungen durch die Franzosen bei der Verfolgung algerischer Rebellen belasteten unterdessen seit 1957 die Beziehungen Tunesiens mit seiner ehemaligen Schutzmacht. Sie weiteten sich zu einer ernsthaften Krise aus, als französische Kampfflugzeuge 1958 das tunesische Dorf Sakiet Sidi Youssef (heute Saqiyat Sidi Yusuf) angriffen und 68 Zivilisten töteten. Nach einer Phase der Entspannung, in der sogar ein Abkommen über Technologietransfers aus Frankreich unterzeichnet wurde, kam es 1961 zu einer erneuten Konfrontation. Ausgelöst wurde sich durch die Weigerung der Franzosen, ihren Marinestützpunktes in Bizerte zu räumen. Am 19. Juli 1961 sprengten französische Truppen einen Belagerungsring, den tunesische Streitkräfte um den Stützpunkt gezogen hatten, und töteten bei Kämpfen 1300 Tunesier. Beide Seiten akzeptierten zwar einen Waffenstillstand, den der UN-Sicherheitsrat per Resolution am 22. Juli gefordert hatte, doch die Franzosen ließen sich mit ihrem endgültigen Truppenrückzug aus Bizerte noch mehr als zwei Jahre Zeit.

Wirtschaftswunder und innenpolitische Krise

Wirtschaftspolitisch experimentierte die Regierung Bourguiba in den sechziger Jahren mit Reformen, die deutliche sozialistische Züge trugen. Im Mai 1964 beschloss die Nationalversammlung die Enteignung ausländischer – das hieß überwiegend französischer – Grundbesitzer, die in Tunesien insgesamt 300 000 Hektar Land besaßen. Als Frankreich Tunesien 1964 die finanzielle Unterstützung entzog, stürzte das Land in eine schwere Wirtschaftskrise.

Bei den Wahlen vom November 1964 trat die Néo-Destour-Partei unter neuem Namen als Parti Socialiste Destourien an. Abermals sicherte sie sich sämtliche Sitze in der Nationalversammlung, und Präsident Bourguiba erhielt ohne Gegenkandidat 96 Prozent der Stimmen. Ein ähnliches Ergebnis brachten die Wahlen im November 1969, in deren Vorfeld sich Bourguiba durch Verfassungsänderung eine dritte Amtszeit gesichert hatte. Unterdessen verabschiedete sich die Regierung vom Sozialismus und steuerte von nun an einen wirtschaftsliberalen Kurs nach westlichem Vorbild. Ihr 1972 aufgestellter Zehnjahresplan sah unter anderem eine Dezentralisierung der Industrie und die Förderung des Tourismus vor. Nicht zuletzt die Ausbeutung von Erdölvorkommen bescherte Tunesien einen wirtschaftlichen Aufschwung – und Bourgiba in Anerkennung seiner Leistungen im März 1975 die Ernennung zum Präsidenten auf Lebenszeit.

Doch Mitte der siebziger Jahre beendete eine Rezession das tunesische Wirtschaftswunder. Steigende Arbeitslosenraten führten zu Streikwellen. Unruhen unter den Studenten und Bauern verschärften die Lage, und ab 1978 kam es immer wieder zu blutigen Straßenschlachten mit den Sicherheitskräften. Die Regierung reagierte mit zunehmender Härte gegen oppositionelle Kräfte. Eine Verdoppelung der bis dahin stark subventionierten Grundnahrungsmittel führte 1984 zu landesweiten Protesten, die mit Hilfe des Militärs blutig unterdrückt wurden.

Verhältnis zu den arabischen Staaten

Im Verhältnis zu den arabischen Staaten fuhr die tunesische Regierung von Anfang an einen Schlingerkurs. Am 1. Oktober 1958 trat sie der Arabischen Liga bei, die sie aufgrund von Differenzen mit dem nasseristischen Ägypten im November aber schon wieder verließ. In den sechziger Jahren suchte Tunesien die Annäherung an die anderen Maghrebstaaten Algerien und Marokko und wirkte an der Bildung des Maghreb Permanent Consultative Committee mit, das sich für eine bessere regionale Kooperation in Nordafrika einsetzte.

Nachdem Tunesien zwischenzeitlich auch engere Kontakte mit dem arabischen Osten und insbesondere Ägypten pflegte, verschlechterten sich die Beziehungen zum arabischen Lager, als Bourguiba 1965 für ein Übereinkommen mit Israel auf der Grundlage der UN-Resolution von 1947 eintrat. Die Differenzen nahmen weiter zu, als Tunesien seine Beziehungen zu Ägypten wieder abbrach und die Arabische Liga boykottierte.

Als Bourguiba im jemenitischen Bürgerkrieg 1966 Partei für die Royalisten ergriff, machte er sich Saudi-Arabien zum Freund, zog sich aber die Feindschaft Ägyptens zu. Dies änderte sich wieder, als er im sich verschärfenden Nahost-Konflikt 1967 eine anti-israelische und proarabische Haltung einnahm.

1982 gewährte Bourguiba dem PLO-Führer Jasir Arafat und einigen Hundert seiner Anhänger, die den Libanon verlassen mussten, sogar Asyl. Die Beziehungen zu Libyen verschlechterten sich 1985, nachdem das Nachbarland aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten 30 000 tunesische Gastarbeiter entlassen hatte, die in der Heimat den darniederliegenden Arbeitsmarkt zusätzlich belasteten.

Jasmin-Revolte

Die anhaltenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten und die sozialen Spannungen führten 1987 zur so genannten „Jasmin-Revolte“. Einen Monat nach seiner Ernennung zum Ministerpräsidenten nutzte der ehemalige General und Sicherheitschef des Präsidenten, Zine el-Abidine Ben Ali, die allgemeine Unzufriedenheit zum Staatsstreich und erklärte den seit 30 Jahren regierenden greisen Bourguiba wegen Amtsunfähigkeit am 7. November 1987 für abgesetzt.

Mit populären Maßnahmen wie der Amnestierung politischer Gefangener, der Legalisierung der meisten Oppositionsparteien und der Wiederherstellung der Pressefreiheit bescherte Ben Ali seiner Partei, dem Rassemblement Constitutionnel Démocratique (RCD), bei den ersten freien Wahlen seit der Unabhängigkeit im April 1989 trotz Konkurrenz sämtliche Sitze im Parlament. Er selbst wurde ohne Gegenkandidat im Amt des Präsidenten bestätigt.

Trotz der rigorosen Unterdrückung des islamischen Fundamentalismus, dem durch gezielte politische und soziale Reformen zudem der Nährboden entzogen wurde, behauptete sich Ben Ali mit seiner Partei auch bei den Wahlen 1994 und 1999 deutlich. Mit großer Mehrheit stimmte die Bevölkerung im Mai 2002 in einem Referendum einer Verfassungsänderung zu, die es Ben Ali erlaubte, bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober 2004 ein viertes Mal anzutreten. Mit 94,5 Prozent der Stimmen erreichte er sein bis dahin schlechtestes Ergebnis. Von den drei Mitbewerbern galten zwei als regimetreu; der dritte und einzige oppositionelle Kandidat kam auf nicht einmal 1 Prozent der Stimmen. Aus den gleichzeitig abgehaltenen Parlamentswahlen ging Ben Alis RCD mit 152 der insgesamt 189 Mandate als absolut stärkste Partei hervor. Der Opposition wurde von vornherein ungeachtet des tatsächlichen Wahlergebnisses ein Fünftel der Sitze garantiert, was – wie das vergleichsweise „schlechte” Wahlergebnis Ben Alis – als Zeichen für eine gewisse Demokratisierung gewertet wurde.

Verfasst von:
Roland Detsch

(© cpw)