Braindrain in Griechenland
Schuldenkrise führt zum
Exodus hoch qualifizierter Fachkräfte
Von
Roland
Detsch
Gut ein halbes
Jahrhundert nach der ersten Auswanderungswelle aus Europas damaligem
„Armenhaus“ droht Griechenland in der Schuldenkrise nun erneut der
Massenexodus. Waren es jedoch beim ersten Mal überwiegend ungelernte
Arbeiter und Bauern, die sich aufmachten, um ihr Glück und
Auskommen
in der Fremde zu suchen, steht dem Land diesmal ein „Braindrain“
hoch qualifizierter Fachkräfte bevor. Sie werden in Industrieländern
wie Deutschland mit offenen Armen erwartet.
Der Wettbewerb kennt
kein Erbarmen. Just als im krisengeschüttelten Griechenland
massenhaft unzufriedene Mediziner auf die Straße gingen, erschien
schon die Auslands- und Fachvermittlung der deutschen Bundesangentur
für Arbeit in Athen und Thessaloniki auf Abwerbetour.
Wie es der Zufall scheinbar so
wollte, lud sie Anfang April in Athen und Thessaloniki zu
„Informations- und Vermittlungsveranstaltungen für Ärzte“. Sie
richteten sich an Mediziner aller Fachrichtungen, „die sich dort
über Lebens- und Arbeitsbedingungen in Deutschland erkundigen“
konnten. Insbesondere an Absolventen, „die auf eine
Weiterbildungsstelle zum Facharzt oder ein ‚Agrotiko‘ warten“, das
ebenso unbeliebte wie unausweichliche Praktikum auf dem Land, mit
denen sich die griechischen Nachwuchsmediziner die langen
Wartezeiten von zwei bis zwölf Jahren bis zu ihren Spezialisierungen
zu verkürzen pflegen.
Ärzte als Vorhut
Bekanntlich herrschen ja in Deutschland seit
geraumer Zeit in einigen medizinischen Fachbereichen erhebliche
Personalengpässe. Und auch die ärztliche Versorgung auf dem Land und
insbesondere in den neuen Bundesländern lassen zu wünschen übrig.
Bereits 2005 stammte jeder fünfte Mediziner in Ostdeutschland aus
dem Ausland. Besonders beliebt: Griechen, die in Deutschland ihre
fachärztliche Weiterbildung absolvieren. Doch sie könnten nur die
Vorhut gebildet haben. Exakt 32 Jahre nach dem offiziellen
Anwerbestopp griechischer „Gastarbeiter“ sind deutsche
Arbeitsvermittler wieder auf dem Balkan unterwegs wie weiland die
Germaniken Epitropin en Elladi (Deutsche Kommission in
Griechenland) in den Sechziger- und Siebzigerjahren.
Noch hält sich der Exodus zwar in Grenzen und
ist noch weit von den Zuständen entfernt, als jeder zehnte Grieche
sein Glück in der Fremde suchte und ganze Dörfer und Regionen
verwaisten. Doch laut einer Umfrage des griechischen
Meinungsforschungsinstitut Kapa Research vom August 2010 denken mehr
als zwei Drittel aller jungen Akademiker darüber nach auszuwandern;
40 Prozent hätten sogar schon entsprechende Anträge gestellt. Kein
Wunder bei einer Jugendarbeitslosigkeit von 40 Prozent. Wobei zu
berücksichtigen ist, dass sich vor allem junge Menschen nicht als
arbeitsuchend registrieren lassen, wenn sie noch keinen Anspruch auf
Arbeitslosengeld haben, was zum Teil daran liegt, dass Arbeitsplätze
in Griechenland sehr häufig nicht über das Arbeitsamt, sondern über
persönliche Beziehungen besetzt werden.
Wenig Hoffnung auf Wende
Reagierten die familiären Griechen auf die
Krise erst einmal in landestypischer Manier, indem sie den Gürtel
enger schnallten, zusammenrückten und ihre flüggen Kinder wieder im
Elternhaus aufnahmen, ist den meisten mittlerweile die
wirtschaftliche Perspektivlosigkeit klar geworden. Für diejenigen,
die nach ihrem Auslandsstudium in die Heimat zurückgekehrten und nun
ihren Arbeitsplatz verloren haben, liegt es besonders nahe, das Land
wieder zu verlassen. Zumal Unternehmen aus Ländern wie Deutschland
keinen Hehl daraus machen, dass sie zur Deckung ihres
Fachkräftebedarfs an hochqualifiziertem Personal aus dem Ausland
höchst interessiert sind.
Dies alles erinnert fatal an die Situation in
Irland, wo der Wirtschaftsboom in der aufstrebenden IT- und
Dienstleistungsbranche nicht nur die Menschen im Land hielt, sondern
auch zahlreiche Auswanderer aus der Diaspora zurück in die Heimat
lockte. Heute in der Krise stehen die Auswanderungskandidaten auch
dort wieder Schlange. In Griechenland verbreiten indes die
tagtäglichen Hiobsbotschaften und die Diskussionen über weitere
Sparmaßnahmen zur Sanierung des Haushalts weiter Unsicherheit.
Angesichts der Realitäten gelingt es nicht, die Verbraucher davon zu
überzeugen, dass die Reformen und Sparmaßnahmen bis Ende 2011 zu
einer Wende in der Wirtschaft führen werden.
Schlimme Zeiten stehen noch bevor
Die Abwärtsspirale begann 2009, als die
Arbeitslosenquote laut Angaben von Eurostat infolge der weltweiten
Finanz- und Wirtschaftskrise innerhalb eines Jahres von 7,9 auf
10,2 Prozent hochschnellte. Im November 2010 lag sie nach
offiziellen Zahlen bereits bei 13,5 Prozent. Und für 2011 erwarten
Ökonomen der OECD einen Wert von 14,3 Prozent. Eine Einschätzung die
der Griechische Gewerkschaftsbund GSEE für viel zu optimistisch
hält. Er geht von bestenfalls 20 Prozent aus – was der
Erwerbslosigkeit von 1960 entspräche, als Hunderttausende Griechen
auswandern mussten – und prognostiziert den Rückfall der Kaufkraft
auf das Niveau von 1984.
Die Werftindustrie und Bauwirtschaft liegen
völlig am Boden. Während sich die Chemiebranche infolge von Fusionen
und der Zunahme des Arzneimittelkonsums zunächst noch einigermaßen
behaupten konnte, traf der Wegfall öffentlicher Aufträge die
Elektronik-, IT- und Telekommunikationsbranche hart. Aber auch der
Medizintechnik machen der Spar- und Sanierungskurs öffentlicher
Krankenhäuser sowie die rückläufigen Investitionen privater Kliniken
und Diagnosezentren schwer zu schaffen. Und selbst der Tourismus
bleibt von der allgemeinen Depression im einstigen Ferienparadies
nicht verschont. Menelaos Givalos, Politikwissenschaftler an der
Universität Athen hat die Griechen unterdessen im Fernsehen bereits
darauf eingestimmt, dass die richtig schlimmen Zeiten erst noch
bevorstehen. Ab September werde es eine große Entlassungswelle geben
– mit „extremen sozialen Folgen“.
Links:
Germany
Trade & Invest
Germany Trade & Invest: Wirtschaftsdaten und Informationen über
Griechenland in Form von
Artikeln und
Publikationen
Zentrale Auslands und Fachvermittlung (ZAV)
der Bundesagentur für Arbeit
„Perspektive 2025: Fachkräfte für Deutschland“ –
Broschüre der Bundesagentur für Arbeit
Martina Loos:
„Aufbruch ins Ungewisse. Griechische ÄrztInnen in Deutschland“
Dieser
Artikel oder eine Version erschien erstmalig auf der Website des
Goethe-Instituts e.V. unter www.goethe.de...>>weiter
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