Der Che Guevara des 21. Jahrhunderts?
Social Media als
Instrumente der Massenmobilisierung
Von
Roland
Detsch
Gerade in autoritären Staaten mit Zensur bietet das Mitmachnetz Web
2.0 neue Möglichkeiten zur Opposition und zur Mobilisierung von
Widerstand. Aber auch bei uns können sich Bürgerinitiativen und
Protestbewegungen mit Hilfe sozialer Netzwerke schneller
und
effizienter absprechen, wie die Demonstrationen gegen das
Großprojekt „Stuttgart 21“ zeigen. Welche Rolle spielen die Social
Media bei der Veränderung der politischen Kommunikation hierzulande
und anderswo?
Bis zur überraschenden Wahl des Außenseiters Barack Obama zum
US-Präsidenten 2008 galten Social Media zumindest in der Politik
hierzulande allenfalls als Domäne einer Handvoll technikaffiner
Exhibitionisten. Dann setzten die Microblogging-Systeme auf breiter
Front zum Höhenflug an.
Inzwischen, so scheint es, gibt es kaum eine Kampagne oder
Initiative mehr, die ohne die Kommunikationstechniken des Web 2.0
auskommt, kaum einen Politiker, der über keinen Account bei Facebook
oder Twitter verfügt.
Keine guten Nachrichten für Utopisten
Doch der Schein trügt. „Keine guten
Nachrichten für Utopisten: Nur 0,6 Prozent der Internetnutzer äußern
sich mehr als einmal im Monat in Weblogs zu politischen Themen, in
sozialen Netzwerken sind es 2,5 Prozent. Nur die wenigsten Beiträge
werden überhaupt gelesen – und wenn, dann von denen, die sowieso
politisch gebildet sind“, twitterte der
Kommunikationswissenschaftler Christoph Neuberger von der Tagung
„Revolution im Netz – Das Internet verändert die politische
Kommunikation“ der Akademie für Politische Bildung in Tutzing.
„Wenn, wie in Stuttgart, ein Vertrauensbruch
besteht zwischen den Bürgern einerseits und den Medien und der
Staatsgewalt andererseits – dann sucht man sich andere Foren der
Organisation und Diskussion“, hielt der Stuttgarter Grünen-Politiker
Andreas Bühler dagegen. Die Facebook-Seite der „Stuttgart 21“-Gegner
habe über 100.000 Mitglieder und damit eine größere Reichweite als
eine Regionalzeitung.
Deutsch-schweizerisches Forschungsprojekt
gestartet
Die Frage, welche politisch relevanten Folgen
die neuen Kommunikationstechniken tatsächlich zeitigen, bleibt
vorläufig offen. Doch sie ist bereits Gegenstand eines von der
Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanzierten Projekts zur
wissenschaftlichen Untersuchung der „Politischen Kommunikation in
der Online-Welt“, das nach fast dreijähriger Vorbereitungsphase im
April die Arbeit aufgenommen hat. Das deutsch-schweizerische
Forscherteam unter der Leitung der Düsseldorfer
Medienwissenschaftler Gerhard Vowe und Marco Dohle hat drei Jahre
Zeit. Dann wird ihre Arbeit begutachtet und über eine Verlängerung
entschieden.
An Anschauungsmaterial dürfte es dabei nicht
mangeln. Ob WikiLeaks oder GuttenPlag, ob „Stuttgart 21“ oder
„Arabischer Frühling“ – stets galt das Web 2.0 als die treibende
Kraft. Doch war es das wirklich in jedem Fall? Eine Internet- und
Social Media-Revolution ausgerechnet in Ländern, in denen für
gewöhnlich nur mit gut Glück eine analoge Telefonverbindung zustande
kommt? Ein gefundenes Fressen für Anhänger von
Verschwörungstheorien. Sie haben den „Arabischen Frühling“ längst
als groß angelegte Inszenierung des „Westens“ entlarvt, sich mit
Hilfe der neuesten technologischen Errungenschaften aus dem
amerikanischen Silicon Valley der letzten verbliebenen
fortschrittlichen Führungsgestalten der islamischen Welt zu
entledigen. Wasser auf ihre Mühlen dürften Berichte wie die von
einem US-Studenten sein, der sich am 13. Juni als die syrische
Bloggerin Amina Abdallah Arraf „outete“.
Sicht durch die westliche Brille?
Das fingierte angeblich lesbische Mädchen aus
Damaskus mit dem Usernamen „Amina A.“ war in den Wochen zuvor wegen
ihrer regimekritischen Haltung zu einer der wichtigsten und viel
beachtetsten Stimmen der Revolution avanciert. Ebenso wie in Libyen
unterliegen die Medien in Syrien einer strengen Zensur, was dazu
führt, dass die ausgeschlossenen ausländischen Journalisten bei der
Berichterstattung auf bloggende Augenzeugen oder YouTube-Videos
angewiesen sind, deren Authentizität sich nur schwer überprüfen
lässt.
Dabei sind die Ansichten über die Rolle der
Social Media im Hinblick auf die Vorgänge in der arabischen Welt
durchaus geteilt. Will Heaven vom Daily Telegraph etwa warnt vor
einer Sicht durch die westliche Brille und erinnert an die „Grüne
Revolution“ im Iran 2009, die voreilig als „Twitter-Revolution“
gefeiert worden war, ehe sich herausstellte, dass lediglich 0,027
Prozent der Bevölkerung über entsprechende Accounts verfügten. „Die
westlichen Medien haben sich absichtlich auf die Rolle der
westlichen Technologie konzentriert, und weniger darauf, dass aktive
Proteste auf der Straße – ein bestens bekanntes Vehikel für
Revolutionen – zum Sturz von Diktatoren geführt haben.“
Denkwürdige Schlussfolgerungen
Ähnlich die Einschätzung des
deutsch-ägyptischen Journalisten und Filmemachers Philip Rizk, der
in den Tagen der Revolte aus Ägypten bloggte: „Natürlich haben diese
sozialen Netzwerke eine Rolle gespielt. Aber die meisten Leute sind
nicht junge, die stundenlang jeden Tag im Internet sitzen. Also kann
man es nicht nur eine Twitter- oder Facebook-Revolution nennen.“
Nach seiner Beobachtung handelte es sich eher um eine „Revolution
der Füße“, bei der Gruppen von Wenigen bei Märschen durch die Stadt
zu Heeren von Abertausenden anschwollen.
Dennoch, auch wenn sie sich im Klaren sind,
dass es noch für verfrüht für eine abschließende Beurteilung ist,
halten es die „Innovationsberater“ des US-Außenministeriums, Alec
Ross und Ben Scott, an der Zeit für einige denkwürdige
Schlussfolgerungen. „Nichts von dem, was in Nahost geschieht, ist
eine durch Technologie ausgelöste Revolution – aber Technologie
spielte eine wichtige Rolle.“ Für sie ist evident, dass die Social
Media den politischen Wandel beschleunigen, indem sie ähnlich
denkende Gruppierungen miteinander vernetzen und die
Echtzeitkoordination beim Aufbau der Bewegung ermögliche. Auf diese
Weise werde der Aufbau einer Bewegung von mehreren Jahren zu einem
Prozess verkürzen, der in wenigen Wochen oder Monaten abgeschlossen
sei. „Der Che Guevara des 21. Jahrhunderts ist das Netzwerk. Man
braucht keine herausragende Einzelperson, um die Massen zu
organisieren und zu inspirieren.“
Links:
Lehrstuhl
für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Heinrich Heine
Universität Düsseldorf
„Die
Revolution im Netz“ –
Protokoll der Tagung an der Akademie für Politische Bildung
Tutzing
„140 Zeichen Revolution“ –
Arabien-Twitter im Überblick auf Spiegel Online
NATO-Brief:
„Social Media: Alle Macht dem Volk“
Leitfaden Social Media
Twitter
Facebook
WikiLeaks
Facebook-Seite
„K21 – KEIN Stuttgart 21“
Dieser Artikel oder
eine Version erschien erstmalig auf der Website des Goethe-Instituts
e.V. unter www.goethe.de...>>weiter
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