Karl der Fiktive
Heribert Illigs
grundstürzende Demontage der abendländischen Geschichte
Von
Roland
Detsch
Die Propheten haben sich eventuell doch
nicht geirrt. Der Weltuntergang kann bis zum Ende des Millenniums durchaus noch
kommen. Doch keine Panik, wir schreiben erst das Jahr 1702. Zumindest, wenn
man Heribert Illig glauben darf. Er, der passionierte Zeitforscher, der
bereits 2000 Jahre altägyptischer Geschichte als Hirngespinst entlarvte,
deckt in seinem Bestseller Das erfundene Mittelalter nun Die größten
Zeitfälschung der Geschichte Europas auf.
"Gewitzt durch Erfahrungen mit
antiken Chronologien, deren Wahrheitsgehalt kein näheres Hinschauen verträgt",
machte ihn diesmal die Dunkelheit des Mittelalters stutzig. Die Überprüfung
der Gregorianischen Kalenderreform brachte es schließlich zutage. Rund 300
Jahre Geschichte sind frei erfunden, "Phantomzeit", die
"ersatzlos zu streichen" ist. Doch gemach. Es ist nämlich kein
Geringerer, als der strahlende Ahnherr des christlichen Abendlandes, Karl der
Große (um 742-814), der einer Zeitkürzung in der europäischen
Geschichtsschreibung am ehesten im Wege steht. Indes, die geradezu herkulische
Vita dieses sagenhaften Heros, der mitten im sprichwörtlich "finsteren
Mittelalter" aufleuchtet, um in einem saeculum obscurum wieder zu verlöschen,
ist es, die Illigs Zweifel überhaupt erst nährten. "Karls Heldentaten
prangen im hellsten Licht der Geschichte, Zeugnisse für das Entstehen eines
geeinten Europas. Sie verdecken nur mühsam die allgegenwärtigen Widersprüche.
Jede Prüfung enthüllt neue Unverträglichkeiten und Lücken, als wäre 'Er'
ein Widerspruch in sich, ein hölzernes Eisen, ein Oxymoron".
Getreu Kurt Gödels Erkenntnis, daß die
Gesamtheit einer (mathematischen) Theorie nur von außen durch eine
Metatheorie abgrenzbar ist, sieht sich Illig selbstbewußt als „unbedarfter
Außenseiter", der mit „unverstelltem Blick eine Lösung erkennt, die
der Fachmann inmitten 'seiner' Bäume niemals finden würde". Zeigte sich
die Mediävistik Anfang der neunziger Jahre von dem "neuen Däniken"
und seinen ersten dünnen Beweisen für "Karl den Fiktiven" noch
weitgehend unbeeindruckt, scheint sie mit zunehmender Unterfütterung archäologischer,
architektonischer und dokumentarischer Anachronismen inzwischen zum kritischen
Disput geneigter.
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