„Eine echte Hitler-Biografie
wäre sehr kurz und sehr karg“
Ian Kershaw, Professor für Neuere Geschichte und Direktor des
Historischen Instituts der Universität Sheffield, hat mit dem zweiten Band
seiner
Hitler-Biografie ein imposantes
Werk vollendet, das von der internationalen (Fach-)Presse fast einhellig als
meisterhaft gelobt wurde. „Es wird ohne Zweifel zu einem Standardwerk werden, maßstabsetzend
für die Debatte der kommenden Jahre“, zitiert der Verlag Frank Schirrmacher, den Feuilletonchef der
Frankfurter
Allgemeinen Zeitung, auf dem Bucheinband. Für
cpw sprach
Roland Detsch
mit dem Autor.
Ihre
monumentale Hitler-Biografie, für die ich Ihnen meine Hochachtung aussprechen
möchte, ist ja in vielen Ländern ein Bestseller. Woher kommt das
ungebrochene Interesse an Adolf Hitler in einer ansonsten zunehmend
apolitischen Zeit, und wo finden Sie mit Ihren Büchern die meiste
Aufmerksamkeit?
Die
zweite Frage lässt sich leicht beantworten: in Deutschland. Das hat, glaube
ich, mit dem anhaltenden Trauma Hitler und der nach wie vor vorhandenen
moralischen Betroffenheit zu tun. Das Interesse hier ist überwältigend, und
zwar an beiden Bänden, was für mich sehr erfreulich ist, da ich immer größten
Wert drauf gelegt habe, vor allem in Deutschland auf Resonanz zu stoßen. Überhaupt
ist das Interesse erstaunlich groß. Der erste Band war zum Beispiel auch in
Amerika sofort ein Bestseller, ebenso in England. Dort der zweite Band sogar
noch mehr als der erste, vermutlich weil er auch den Krieg behandelt, der die
ältere Generation interessiert, die die Kriegsjahre noch miterlebt hat. Das
selbe gilt für Frankreich und Spanien, wo natürlich die Verwicklungen des
Vichy-Regimes und der Franco-Diktatur dazukommen.
Hitler
hat das 20. Jahrhundert mehr als jeder andere Mensch im negativen Sinne
gestaltet, war Hauptinitiator des Zweiten Weltkrieges und Inspirator eines
beispiellosen Völkermordes – das hat eine dauerhafte Faszination
hinterlassen. Ich spüre diese Faszination an der deutschen Katastrophe mit
unterschiedlicher Akzentuierung in fast allen Ländern.
Und wie ist es in Israel?
Es
hat dort eine Reihe von positiven Rezensionen gegeben, aber das Interesse in
Israel scheint mir etwas geringer zu sein als in den anderen Ländern. Aber
vielleicht liegt das nur daran, dass es bisher noch keine hebräische Ausgabe
gibt.
Woher rührt eigentlich Ihr eigener
Forschungsdrang in Sachen Adolf Hitler und Geschichte des Nationalsozialismus,
warum haben Sie sich ausgerechnet auf deutsche Zeitgeschichte spezialisiert?
Das
war ein langer Prozess, nichts Dramatisches. Ich lernte in den siebziger
Jahren am Goethe-Institut in Manchester, wo ich wohne, als Hobby Deutsch. Dort
hatte ich es mit einer ausgezeichneten Deutschlehrerin zu tun, die es
irgendwie schaffte, uns für deutsche Kultur, Literatur, Kunst, Politik und
Geschichte zu begeistern – so sehr, dass in mir der Entschluss reifte, von
Mediävistik auf deutsche Zeitgeschichte umzusatteln. Zunächst habe ich mich
vor allem für die Sozialgeschichte des Dritten Reiches interessiert und
schrieb im Rahmen eines groß angelegten Forschungsprojekts, das vom Institut
für Zeitgeschichte in München geleitet wurde, zwei Bücher über
Volksmeinungen in Bayern während der NS-Zeit und über den Hitler-Mythos,
was mich nolens volens in Berührung mit Hitler brachte. Im Laufe der
darauffolgenden Jahre verstärkte sich mein Interesse an den
Herrschaftsstrukturen der NS-Zeit, und ich befasste mich auch mit den
historiographischen Debatten über Hitler. Und dann habe ich ein kurzes Buch
über Hitlers Machtprofil geschrieben und stand damit schon fast an der
Schwelle zu einer Hitler-Biografie.
Nun wurde und wird ja ungeheuer viel
über den Nationalsozialismus publiziert, und es liegen ja auch schon eine
Reihe von Hitler-Büchern vor. Wo steckte für Sie die Herausforderung, und
wodurch sollte sich Ihr Werk unterscheiden?
Es
gab meines Erachtens bisher nur zwei herausragende Hitler-Biografien. Die
erste von meinem Landsmann Alan Bullock ist bereits ein halbes Jahrhundert
alt, die zweite von Joachim Fest immerhin auch schon ein Vierteljahrhundert.
In der Zwischenzeit haben sich eine ganze Reihe neuer Quellen aufgetan, allen
voran die kompletten Goebbels-Tagebücher, und es gibt auch eine Fülle neuer
Sekundärliteratur zu allen möglichen Aspekten einschließlich der
Vernichtungspolitik, die in meinem Buch breiten Raum einnimmt.
Aber
der wichtigste Unterschied liegt in meinem Ansatz. Ich zeige Hitler mehr als
Produkt der Gesellschaft und versuche ihn damit im Endeffekt zu entdämonisieren
und zu entmythologisieren. Das ist der wesentliche Unterschied.
Sie gelten momentan als der weltweit
bedeutendste Hitler-Experte und haben damit eine Weihe, von der so mancher
deutsche Historiker träumen würde. Welchen Stellenwert hat Ihrer Meinung
nach nationale Neutralität und vielleicht auch das Alter bei der
NS-Forschung?
Man
kann Hitler gegenüber natürlich nicht neutral sein. Aber ich glaube schon,
dass ich als Ausländer einen gewissen Vorteil habe, da ich mit mehr
Unbefangenheit an das Thema herangehen kann. Ich stelle es mir jedenfalls für
einen deutschen Kollegen viel schwieriger vor, eine solche Biografie zu
schreiben. Natürlich haben deutsche Historiker phantastische
Forschungsleistungen in allen möglichen Teilgebieten der Geschichte des
Dritten Reiches vollbracht, von denen ich sehr profitieren konnte.
Was
das Alter betrifft, so spielt das speziell in meinem Fall keine so große
Rolle. Ich bin zwar Jahrgang 1943, und Hitler hat meine Kindheit und meine
Jugend natürlich indirekt geprägt. Aber keiner in meiner Familie hat direkt
unter ihm gelitten, ist gestorben oder durch den Krieg zu Schaden gekommen,
und insofern bin ich nicht vorbelastet. Aber ich glaube, in Deutschland spielt
das Alter eine ziemlich große Rolle.
Es
tritt jetzt die alte Garde von Historikern sozusagen aus der
Hitlerjugendgeneration ab, und es kommen neue Leute an die Reihe, die
wesentlich unbefangener an die Materie herangehen können und dies auch tun.
Die jüngeren Historiker scheuen nicht mehr davor zurück, sich mit den
schlimmsten Verbrechen der NS-Zeit zu beschäftigen und völlig unverblümt
ganz wesentliche Fragen zu stellen. Das hat innerhalb von kurzer Zeit beträchtliche
Fortschritte in der Forschung gebracht. Mit dem Generationenwechsel haben auch
die alten historiographischen Debatten etwas von der Hitze früherer Zeiten
verloren.
In ihrer Unbefangenheit stellen Sie
ja teilweise Thesen auf, die sich meiner Meinung nach deutsche Historiker mit
Rücksicht auf internationale Befindlichkeiten gar nicht erlauben dürften.
Zum Beispiel wenden sie sich gegen die Dämonisierung Hitlers zum alleinigen Sündenbock,
wobei Sie sogar so weit gehen, seinen persönlichen Anteil an den Verbrechen
des Nationalsozialismus eher gering zu veranschlagen. Sind Sie deshalb auch
Anfechtungen ausgesetzt?
Nein,
das ist ein Missverständnis. Ich möchte die Schuld Hitlers überhaupt nicht
schmälern. Ich habe immer deutlich gesagt: Ohne Hitler kein Holocaust. Dass
Hitler die Hauptverantwortung trägt, dass er allem zugestimmt und dass er
alles ermächtigt hat, das steht für mich völlig außer Zweifel. Deshalb
gibt auch keinen Anlass für politische Attacken auf mich.
Ich
habe lediglich nach strukturellen Erklärungen dafür gesucht, wie sich die
Dinge entwickeln konnten, ohne dass Hitler mehr tun musste, als grünes Licht
zu geben oder Kräfte freizusetzen. Meine Ausgangsfrage lautete nicht: Was
musste Hitler tun, um das zu ermöglichen?, sondern: Wie wenig musste Hitler
tun, um das zu ermöglichen? Es handelt sich also um den Versuch – wenn man
so will –, die moralische Schuld auszuweiten, die Komplizenschaften und die
vielen kleinen Räder in der großen Maschinerie aufzuzeigen.
Sie würden Hitler auch
nicht als Psychopathen bezeichnen?
Nein,
dass Hitler nicht wusste, was er tat, ist eine zu plumpe Erklärung für die
begangenen Verbrechen und klingt mir zu sehr nach Apologetik. Man müsste sich
dann schon auch fragen, warum so viele Menschen, die völlig bei Verstand
waren, einem psychisch kranken Menschen gefolgt sein sollen. Ich möchte natürlich
nicht abstreiten, dass Hitler vollkommen anormale Charakterzüge hatte.
Bemerkenswert finde ich auch Ihre
These von der Bewunderung Hitlers für das British Empire, und dass er sich
bei seinen Herrenmenschen-Phantasien vom Vorbild der englischen Kolonialherren
in Indien hat leiten lassen.
Hitler
hatte einen ausgeprägten Sinn für Macht. Ihm imponierte das British Empire
nicht als solches, sondern nur die Macht und die Dominanz, die ein relativ
kleines Volk mit einem entsprechenden Beamtenapparat über Hunderte Millionen
Menschen ausüben konnte. Das Auftreten der Kolonialherren in Indien und die
Art und Weise, wie sie das Land vollkommen und rücksichtslos ausbeuteten, war
für ihn ein Musterbeispiel dafür, wie sein eigenes Herrenmenschenreich
aussehen könnte.
Gibt es eigentlich auch Reaktionen
auf Ihre Bücher aus der Neonaziszene?
Gott
sei dank nicht! Ich fürchte fast jeden Tag, dass es solche Reaktionen geben könnte.
Bisher habe ich aber Glück gehabt.
Für Sie scheinen die politischen
Verhältnisse zur Zeit des Nationalsozialismus durchaus rational
nachvollziehbar und nicht unbedingt ein typisch deutsches Phänomen. Gilt das
auch für den Völkermord und die Massenverblendung?
Ja
leider. Es gab natürlich bestimmte deutsche Züge beim Entstehen des
Nationalsozialismus. Ich kann mir ausgerechnet dieses Phänomen nicht in jedem
Land vorstellen. Dennoch gehört der Nationalsozialismus zur weiteren Familie
des europäischen Faschismus. Wenn ich sage, das kann man logisch
nachvollziehen, dann natürlich immer nur unter bestimmten Prämissen. Der
fanatische Judenhass beispielsweise hat bestimmt nichts mit Logik zu tun. Aber
selbst solche Irrationalitäten lassen sich historisch rekonstruieren. Und
wenn man sie als Prämisse der Politik akzeptiert, dann kann man auch eine
logische Entwicklung bis hin zu den Gaskammern erkennen. Leider ist es mir nur
zu erklärlich, wie es unter bestimmten Umständen zu solch furchtbaren
Genoziden kommen kann.
Einige Kritiker bemerkten, es handle
sich bei Ihrem Buch mehr um ein erzählendes als um eine analytisches Werk.
Sie vermissen eine echtes Psychogramm. Mir selbst ist aufgefallen, dass Sie
Hitler als Mensch und Persönlichkeit nach der Machtergreifung ein wenig aus
den Augen verloren haben, dass er dann im zweiten Band aber wieder häufiger
präsent ist, jedoch blutleerer als zu Beginn des ersten Bandes.
Hitler
verschwindet als Privatperson nach der Machtübernahme völlig in seiner
Funktion als Führer. Sein tägliches Leben – das habe ich ja beschrieben
– war ziemlich karg. Da ist nichts da. Die Gedanken sind die gleichen
geblieben seit den zwanziger Jahren, die Kreise und die Umgebung sind die
gleichen geblieben. Er wollte keine Änderungen. Eine echte Biografie der
Person Hitlers wäre sehr kurz und sehr karg. Und das, was zu seiner Psyche zu
sagen ist, habe ich schon ziemlich früh geschrieben. Natürlich gehören die
beiden Bände zusammen, und insofern brauchte ich mich nicht unbedingt zu
wiederholen.
Es
ist nicht zwangsläufig eine Schwäche, wenn ein Historiker nach dem Wie
fragt, um daraus das Warum zu erklären. Natürlich handelt es sich um eine
erzählende Darstellung. Aber aus dieser Erzählung sieht man, wie sich ganz
komplexe Vorgänge entwickelt haben. Und das war mein Ehrgeiz. Ich wollte
keine historiographische Abhandlung schreiben, und ich wollte auch keine
psychologischen Spekulationen anstellen. Ich wollte einfach sehen, wie sich
die Dinge entwickelt haben. Aber wie bei einem Eisberg liegt natürlich viel
unter der Oberfläche. So auch mein analytischer Ansatz, der auf dem Begriff
der „charismatischen Herrschaft“ aufbaut, den ich von Max Weber entlehnt
habe.
Einhellig gelobt wird Ihre Erfassung
der individuellen und strukturellen Zusammenhänge im NS-Staat. Worin liegen
da Ihre spezifischen Neuinterpretationen?
Ich
versuche, die persönlichen Faktoren sehr stark mit den überpersönlichen und
außerpersönlichen Faktoren zu verbinden. Um auf die Historiographie zurückzukommen:
Es herrschte jahrelang in der historischen Zunft eine Polarisierung zwischen
den so genannten Intentionalisten, die sich bei der Interpretation hauptsächlich
auf die Person Hitler konzentrierten, und den Strukturalisten, bei denen
Hitler fast von der Bildfläche verschwand. Ich wollte diese Kluft überwinden,
und nach dem Urteil vieler Kritiker scheint mir das wenigstens zum Teil auch
gelungen zu sein.
Welche Ihrer Bücher könne Sie
unseren Lesern zur zusätzlichen Lektüre empfehlen, oder erfährt man nichts
mehr Neues, wenn man Ihre Hitler-Biografie gelesen hat?
Im
Hinblick auf die letzten Fragen würde sich als Zweitlektüre mein Buch Der
NS-Staat anbieten, das in Deutschland in der dritten Auflage vorliegt.
Dort nehme ich Bezug auf diese theoretischen, historiographischen Positionen
und Interpretationen. Und ein sehr schmaler Band mit dem Titel
Hitlers
Macht beinhaltet eine knappe Zusammenfassung meiner Interpretation der
„charismatischen Herrschaft“.
Was kann man von Ihnen als nächstes
erwarten? Ihre Hitler-Biografie hat ja schon Klasse und Format eines
Alterswerkes. Sie sind aber erst 57 Jahre alt – wie können Sie da noch über
sich hinauswachsen?
(Lacht)
Danke schön. Meine Söhne würden das schon als Alterswerk bezeichnen. Nein,
aber was mich als nächstes erwartet, ist notgedrungen eine Ruhepause. Nach
Abschluss meiner Lesungen und Vortragstourneen durch Deutschland, Frankreich,
Amerika, Holland und England werde ich zehn Jahre lang an diesen Bänden
gearbeitet haben. Ich fühle mich jetzt von Hitler ein bisschen ausgelaugt.
Ich brauche unbedingt eine Pause, in der ich mich neu sammeln kann, bevor ich
mir überlege, was ich als nächstes mache.
Herr Professor
Kershaw, ich bedanke mich sehr herzlich für dieses Gespräch.
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